Montag, 28. August 2017

Kapitel 1: Y - Die verlorene Generation

Inhalt 

„Natürlich wurde ich… halb wahnsinnig vor – vor Druck. Von meinen Eltern, von den Prüfungen, von dem Gefühl, einfach nicht mehr die gleiche Luft zu atmen wie alle anderen um mich herum. Es gab nur noch die Aufgabe, alles so perfekt wie möglich zu machen, so tadellos. Das war so… “ Ich suchte nach dem richtigen Wort, stieß Luft aus den Lungen, die mir in der Brust wehtat. „… leblos.“ Shane sagte gar nichts. Er hörte mir einfach zu. Wieder einmal. Manchmal fragte ich mich, ob ich endgültig durchgedreht war und ihn mir bloß einbildete. Er war wie ein Therapeut. Seine Nähe war meine Therapie.

Als Mia es Zuhause nicht mehr aushält, kauft sie kurzerhand ein Flugticket und landet in Ouray, Colorado. Was ihr endlich Frieden verschaffen sollte, stellt sich als Zerreißprobe heraus: statt allein durchs Land zu reisen, findet sie sich in einer Familie wieder, die ihre ganz eigenen Probleme hat.

Notizen

Softe Auseinandersetzung mit dem Thema Depression, Verdrängung. Beleuchtung der heutigen Generation, die oft die "verlorene" Generation genannt wird.
Tags: Freundschaft, Humor, Romantik, Tragik

_________________________


Als ich Ouray das erste Mal sah, lief gerade Back to the River auf dem Mp3-Player, den ich meiner Schwester geklaut hatte. Nach vielen Stunden auf Reise wusste ich noch immer nicht, was mich hier erwartete – aber nach einer Stadt, in der Pretty Reckless auftreten würden, sahen die vielen kleinen Cafés und Boutiquen eindeutig nicht aus. Ob ich mir einen Gefallen damit getan hatte? Eigentlich spielte das keine Rolle. Es gab in meiner Vorstellung keinen Ort, der ferner von alldem war, vor dem ich davonlief. Und genau das machte das kleine Städtchen, das einem Heimatfilm entsprungen schien, geradezu perfekt.
Ich zog die Mütze tief ins Gesicht, als der Bus sich einen Weg durch die scheinbar in Eis erstarrte Stadt bahnte. Meine Tasche hielt ich seit Stunden festumklammert auf meinem Schoß. Beinahe hätte ich sie nicht mit in den Bus nehmen dürfen, denn dem Fahrer gefiel es gar nicht, eine so große Tasche nicht im Bauch des Fahrzeuges zu wissen. Letzten Endes hatte ich gewonnen, vermutlich, weil er sich keine Verspätungen aufgrund von endlosen Diskussionen leisten konnte oder genug hatte von unliebsamen Fahrgästen. Ich konnte seine Arbeitsmüdigkeit nur zu gut nachvollziehen. Wahrscheinlich fuhr er jeden Tag die gleiche Strecke durch das westliche Colorado, an den immer gleichen Gebäuden vorbei, um die gleiche Art Fahrgäste zu transportieren, die mit ihm über die Klimaanlage, unbequeme Sitze oder zu großes Handgepäck stritten. Der ewig gleiche Trott. Bei dem Gedanken daran wurde mir schwindelig.
„Ouray.“, brummte der untersetzte Mann mit Halbglatze in das Mikrofon.
Ich stupste das blonde Mädchen neben mir an, das glücklicherweise noch keinen Ton mit mir reden wollte. „Lässt du mich raus?“
„Ich muss auch hier raus.“, erwiderte sie lustlos und streckte ihre Glieder, bevor sie mich noch einmal musterte. „Du kommst doch nicht von hier, oder?“
Der Bus hielt mit einem lauten Quietschen. Ungeduldig verstärkte sich der Griff um meine Tasche. „Nein.“
Endlich erhob sie sich, blieb jedoch in der Sitzreihe stehen. „Woher bist du denn?“
„Deutschland.“, sagte ich knapp. „Kann ich jetzt endlich aussteigen?“
„Ist ja gut, ist ja gut.“, murmelte sie. „Nur keine Eile. In Ouray sitzt man lange genug fest.“ Sie schwang endlich ihren zugegebenermaßen hübschen Hintern aus dem Weg. Meiner fühlte sich nach der ewigen Reise plattgedrückt und schlaff an. Glücklich, nicht mehr sitzen zu müssen, kletterte ich ihr hinterher aus dem Bus, nicht ohne einen missbilligenden Seitenblick vom Fahrer zu kassieren, als ich die schwere Tasche über die Schulter warf.
Eiskalte, frische Luft strömte in meine Lungen, während ich mich umsah. Nach wenigen Schritten, die mich von dem Greyhound Bus service entfernten, waren meine Socken bereits feucht und mein Körper zitterte unter dünnen Jeans und Hoodie. Mit der freien Hand zog ich mir den Schal übers Kinn. Nichtsdestotrotz bestaunte ich den malerischen Anblick, der sich mir bot. Mehrere viktorianische Gebäude ragten in der Wintersonne in die Höhe, allesamt unter einigen Zentimetern pudrigem Schnee versteckt. Die kleine Stadt lag in einem Tal, umrahmt von bilderbuchartigen Bergen, deren weiße Spitzen sich vor dem blauen Himmel absetzten. Ganz langsam wurde mir bewusst, warum Ouray auch die Schweiz Amerikas genannt wurde.
„Kann man dir helfen?“
Ich schrak aus meinen Gedanken auf – und starrte auf eine Jacke. Während ich gegen das Sonnenlicht anblinzelte, hob ich den Blick und sah einen hochgewachsenen jungen Mann vor mir stehen. Mit freundlichen braunen Augen betrachtete er mich und hatte ein so herzliches, offenes Gesicht, dass ich nicht anders konnte als zu lächeln.
„Oh. Ich stehe wohl etwas im Weg hier, hm?“, bemerkte ich lachend und sah mich auf dem Gehweg um. Er lachte ebenfalls.
„Du darfst gerne so lange im Weg stehen, wie du möchtest! Ich dachte mir bloß, dass du etwas verloren aussiehst.“
„Da ist was dran.“, seufzte ich und suchte die Umgebung ab. Wo steckte sie bloß?
„Kann man dir helfen?“, wiederholte er, als ich nicht weitersprach.
„Hm… “ Ich lagerte die Tasche unbeholfen um. „Meine Freundin wollte mich abholen. Ich denke, sie wird gleich auftauchen.“ Einem Fremden sollte ich vielleicht nicht zu viel erzählen. „Hoffe ich.“, fügte ich grinsend hinzu, um locker zu wirken und ihn nicht auf die Idee zu bringen, dass ich in Not sei. Zu meiner Enttäuschung ließ er einfach nicht locker.
„Wer ist es denn? Hier kennt man eigentlich jeden. Deshalb fällst du auch so auf.“ Unter dunklen, langen Wimpern musterte er mich intensiv. Normalerweise würde ich mich spätestens jetzt unwohl fühlen, aber etwas an seiner Art ließ mich nicht eine Sekunde daran zweifeln, dass er der netteste Kerl der Welt war. Andererseits… fingen so ziemlich viele Kriminal- und Horrorgeschichten an.
„Dana Maurer.“, erwiderte ich, unsicher. Ich war es nicht gewohnt, dass Fremde einfach anfingen, sich mit mir zu unterhalten. Geschweige denn, dass sich alle Stadtbewohner untereinander kannten, da ich aus einer Großstadt kam. Ich liebte meine Anonymität.
„Ach, die hübsche Dana aus Deutschland!“, rief er. „Ich hätte es eigentlich wissen müssen, dein Akzent verrät dich.“
Ich zuckte mit den Schultern und sah mich wieder um. Der Bus war inzwischen fort und somit auch jegliche Möglichkeit, wieder umzukehren. Umso besser. Das nahm mir eine Entscheidung ab.
„Zufällig arbeitet Dana bei unserer Nachbarin, Mrs Weaver. Ich kann dich hinbringen, wenn du magst.“, bot er an und lächelte mich noch immer auf eine Art und Weise an, die mich dazu brachte, mich vollkommen wohlzufühlen, während zeitgleich all meine Alarmglocken losgingen.
„Ehm… danke. Aber… nein, danke.“ Ich zwang mir ein unverbindliches Lächeln ins Gesicht. „Sie hat versprochen, mich hier abzuholen. Am Ende verfehlen wir uns.“
Ich sah, dass er sich abgewiesen fühlte. Dennoch trug er es mit Fassung und lächelte weiterhin freundlich.
„Okay, ich sag dir was,“, fuhr er fort. „du rufst deine Freundin an und hörst nach, ob sie auf dem Weg ist. Ich kann dich wirklich nicht einfach in der Kälte stehen lassen!“ Er lachte, als er das selbstverständlich, obwohl es das für mich überhaupt nicht war. Er kannte mich überhaupt nicht. Mich würde es nicht jucken, ihn irgendwo in der Kälte stehen zu lassen. Heckte er etwas aus? Oder war er tatsächlich einfach bloß nett?
„Ich habe kein Handy.“, erwiderte ich. Kurz darauf hielt er mir seines unter die Nase. Verblüfft hob ich die Augenbrauen. Ohne das Handy weiter zu beachten, schaute ich ihm genau in die Augen und suchte nach etwas.
„Was?“, fragte er leicht verwirrt. Dennoch war von der Wärme nichts verschwunden.
„Seid ihr hier alle so anhänglich?“, fragte ich spaßeshalber, während ich verlegen den Blick senkte und nach dem Handy griff. Er lachte herzhaft.
„Wenn ich dir auf die Nerven gehe, sag nur Bescheid!“
Das tat er ganz und gar nicht. Er war lediglich eine… Abnormalität in einer Welt wie dieser. Ja, das drückte ziemlich gut das aus, was mir gerade im Kopf vorging. Einerseits hätte mein Start in dieser Stadt gar nicht herzlicher sein können. Andererseits befürchtete ein Teil von mir immer noch, in tausend Stücke gehackt und in schwarze Mülltüten gestopft zu werden. Während ich Danas Nummer wählte, schmunzelte ich über meine eigene Fantasie. Aber man wusste ja nie.
Nachdem ich Danas Nummer eingetippt hatte, ertönte ein Freizeichen. Ungeduldig, da ich das Handy des Fremden nicht ewig in Anspruch nehmen wollte, wartete ich. Endlich knackte die Leitung.
„Hallo? Lucas?“, erklang das besorgte Stimme der Person, die zu meiner einzigen Anlaufstelle geworden war.
„Hm, fast.“, erwiderte ich, nun auf Deutsch. „Aber dann nehme ich an, dass ich endlich den Namen von dem Typen kenne, der mich mit Willkommenskultur überschüttet.“
„Mia!“, rief sie perplex. „Was zum – warum hast du Lucas‘ Handy?“
„Die Reise war etwas holprig, aber nach knapp zwei Tagen bin ich endlich angekommen. Und wie geht’s dir so?“
Ich hörte, wie sie tief durchatmete. „Tut mir wirklich leid, ich wollte ja rechtzeitig da sein, aber naja, hier ist so viel los und diese Reisebusse sind doch sonst nicht so pünktlich. Delta Airlines ist eigentlich auch nicht immer zuverlässig, ich dachte, ein paar Minuten hätte ich noch. Ich musste Mrs Weaver Essen machen, aber sie mochte es nicht, also musste ich –“
„Alles gut!“, unterbrach ich ihren Wortschwall und musste trotz der Kälte grinsen. Ihr typisches Geblubbere hatte ich vermisst. „Kann ja nicht jeder von uns mittellos sein. Sag mir einfach, wo ich hinkommen soll oder wann du hier sein kannst, dann vertreibe ich mir so lange die Zeit.“
„Ob du da so viel findest.“, murmelte sie kaum hörbar. „Ich schicke einfach meine Adresse an Lucas… warte, warum ist er denn jetzt bei dir?“
Ich sah wieder in die geduldig wartenden, sehr braunen Augen mir gegenüber. Ein angenehmer Schauer lief über meinen Rücken. „Das weiß nur Gott.“
„Okay… können wir ja auch später drüber reden.“ Sie klang nicht gerade erfreut. „Ich muss leider auflegen, tut mir leid. Aber ich bin froh, dass du heil angekommen bist!“
„Danke.“, sagte ich lächelnd. „Ich freue mich auf dich. Bis später.“
„Ich freue mich auch. Bis dann!“
Damit legte sie auf. Nun gut, ich wollte eh einfach nur in ihre Wohnung und mich auf die versprochene Couch werfen. Die vergangenen achtundvierzig Stunden machten mir ganz schön zu schaffen. Meine Augen brannten so sehr, dass sie vermutlich kifferrot waren – was das wohl für einen Eindruck auf Lucas machte? Ich hatte zudem das Gefühl, dass meine Kleidung tierisch muffte. Seufzend gab ich Lucas das Handy zurück.
„Vielen Dank. Sie schickt dir gleich eine Adresse, wäre toll, wenn du wartest, bis ich sie mir auf einen Zettel schreiben kann.“ Vorsorglich kramte ich bereits in der Vordertasche meines Rucksacks, in der immer Stifte und Papier auf mich warteten.
Lucas bedachte mich mit einem seltsamen Blick. „Du kennst dich doch gar nicht hier aus.“
„Das schaffe ich schon.“ Ich schenkte ihm ein weiteres unverbindliches Lächeln. „Ich bin ja ein großes Mädchen.“
Er schmunzelte kopfschüttelnd. „Das glaube ich dir aufs Wort.“ Seine Augen musterten mich zum ersten Mal genauer und ich begann, ein wenig nervös zu werden, während ich darüber grübelte, wie er das wohl meinte.
In diesem Moment piepte sein Handy. Zum Glück hatte Dana sich beeilt – wer wusste, wo diese Situation noch hinführte. Lucas scrollte die Nachricht hinunter und runzelte die Stirn.
„Was? Stimmt was nicht?“, fragte ich unsicher. Seine Augen richteten sich wieder auf mich, unschlüssig.
„Hör mal, ich weiß, du hast genug davon,“, sagte er auf einmal mit ernster Miene. Seine Stimme war einen Ton leiser und dunkler geworden. Ohne, dass ich es wollte, war ich ein wenig verzaubert von seiner Ausstrahlung. „aber das ist wirklich direkt neben mir und ich bin eh auf dem Weg nach Hause. Ich kann dich wirklich mitnehmen! Und auch wenn ich mich dir so aufdränge, ich bin kein Verrückter.“ Das Lächeln schlich sich zurück um seine Mundwinkel. „Zumindest hat mir das noch niemand gesagt!“
Einen Augenblick lang sahen wir uns einfach nur an. Das vertrauenswürdige Himmelblau funkelte mir geduldig entgegen, während die Gedanken in meinem Kopf allmählich zum Erliegen kamen. Immerhin hatte ich diese Reise unternommen, um mich auf mehr einzulassen, um etwas anderes zu entdecken als ein neues Muster auf der Küchentapete daheim. Außerdem kannte Dana ihn und sie wusste, dass er mich als letztes gesehen hatte, sollte er mich doch umbringen. Ein wichtiges Detail für die Polizei.
„Okay.“, erwiderte ich schlicht, bevor ich den Kopf schief legte und ihn noch eingehender betrachtete. Dichte, aber wohlgeformte Augenbrauen verliehen seinem markanten Gesicht Charakter. Für sein voriges Stirnrunzeln wurde er nun mit kaum sichtbaren Falten gestraft, die sich über seine gebräunte Haut zogen. Dazu gesellten sich auf einmal Lachfalten um seine Augenwinkel. Er lachte mich wohl aus.
„Und, halte ich der Musterung stand oder hast du mich bereits als Serienkiller abgestempelt?“
„Dich würde keiner verdächtigen und genau deshalb wärst du in einer Mordserie Idealbesetzung.“, erwiderte ich prompt und verengte gespielt nachdenklich die Augen. Ich war froh, dass er mein Gaffen für eine Vertrauensprüfung hielt. „Wie korrupt ist die Polizei in Colorado?“
„Na, jetzt komm mit!“ Er griff grinsend nach meinem Rucksack, den ich ihm wehrlos überließ. Er hätte mich ja doch gezwungen, ihn mein Gepäck tragen zu lassen. „Lass uns besser fahren, bevor die Einwohner uns hören und ich mich mit dem Sheriff duellieren muss.“
Ich lachte auf. Plötzlich war ich überhaupt nicht mehr unangenehm davon berührt, dass mir ein Fremder Hilfe anbot. Jeder Mensch, der imstande war, sinnlosen Quatsch mit mir zu erspinnen, fand erst einmal einen Platz in meinem Herzen.




Während der ziemlich kurzen Fahrt in Lucas‘ schwarzem Cadillac, durfte ich Ouray ganz in Ruhe betrachten. Dieses kleine, eingeschneite Bergstädtchen hatte wirklich seinen Charme. Dass ich es geschafft hatte, tatsächlich irgendwann in meinem Leben in die USA zu reisen, wie so viele Leute es sich erträumen, und dann ausgerechnet in einem solchen Örtchen zu landen, ließ mich den Kopf schütteln. Aber es ließ sich nicht von der Hand weisen, dass es mir gefiel, nicht zu wissen, was auf mich zukommen würde. Ein erwartungsvolles Kribbeln breitete sich in meinem Magen aus, strömte durch meine Arme, bis meine Finger ungeduldig zu trommeln begannen. So idyllisch diese Stadt auch wirkte, ich wusste, dass ich bereit war für neue Erfahrungen und für das Leben, über das ich in meinem Alltag bisher nur lesen durfte. Ich würde mein Abenteuer schon noch finden.
Schließlich saß ich gerade bereits neben einem freundlichen und unheimlich hübschen Mann. Nach einem Liebesabenteuer suchte ich zwar nicht, aber was sprach dagegen, die Reise auf diese Weise zu beginnen? Ich würde meinen Verstand für alles öffnen. Gedankenverloren warf ich ihm einen Seitenblick zu. Sportlich schien er zu sein, durchaus trainiert. Die schlechteste Wahl wäre er definitiv nicht.
„Also… erfahre ich noch deinen Namen, bevor ich endlich von dir ablassen muss?“, erkundigte sich dieser Mann gerade. Himmel, er hatte recht!
„Oh, das hab ich ganz vergessen.“ Ich lachte über meine Unhöflichkeit. „Das war tatsächlich etwas unhöflich von mir. Wobei… deinen Namen weiß ich ja auch nur dank Dana.“
„Einigen wir uns darauf, dass unsere Eltern uns beide besser hätten erziehen müssen.“, grinste er. Ich erwiderte dieses Grinsen eine Spur aufgesetzter, überging den Kommentar jedoch.
„Nenn mich einfach Mia.“, sagte ich dann leise. „Das tut jeder.“
„Okay. Mia.“ Er lächelte mir zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte und kurz darauf in eine Einfahrt einbog. „Und damit wären wir auch schon da.“
Neugierig sah ich aus dem Fenster. Ein Haus komplett aus dunklem Holz gezimmert türmte sich vor dem Bergpanorama auf. Die drei Etagen waren durch Außentreppen miteinander verbunden. Das Ganze wirkte eher wie ein Appartement-Komplex. Verwirrt drehte ich mich zu Lucas um, der sich bereits abgeschnallt hatte und mich erwartungsvoll ansah.
„Oh, sorry.“, murmelte ich, löste ebenfalls den Gurt und stieg aus, ging ein paar Schritte auf das Haus zu. Die eiskalte Luft kroch zurück in meine Kleidung. Sofort vermisste ich den Komfort der Sitzheizung.
„Du scheinst etwas anderes erwartet zu haben!“, rief Lucas von der anderen Autoseite aus, während er meinen Rucksack aus dem Kofferraum holte.
„Nun… sie meinte, sie hilft einer älteren Dame und du sagtest auch, sie arbeitet ‚nebenan bei Mrs Weaver‘… da nahm ich an… “
„… dass sie einer schwerfälligen Lady im Haushalt hilft?“, lachte er, wodurch ich mich ein wenig dumm fühlte. Was für einen Eindruck machte das wohl, wenn man durch die halbe Welt reiste ohne zu wissen, wo man eigentlich hinwollte? Andererseits war genau das der Gedanke dabei gewesen.
„Mrs Weaver gehören viele Immobilien hier in der Stadt.“, erklärte Lucas und trat neben mich. „Sie vermietet sie an Reisende. Dana ist… naja, theoretisch für die Promotion und Vermittlung zuständig, aber praktisch lässt Mrs Weaver sie meistens den Dreck wegräumen.“ Seine Miene verdüsterte sich.
„Ihr habt wohl viel miteinander zu tun?“, fragte ich und musterte sein Gesicht, dass sich überrascht wieder erhellte.
„Oh, nein! Wir sind Nachbarn und laufen uns manchmal über den Weg.“ Er lächelte mich an. „Ich sag doch, hier weiß jeder alles über jeden. Also weiß ich auch über Dana Bescheid. Offensichtlich im Gegensatz zu dir.“
Das saß. Ich seufzte tief. „Wir sind die besten Freundinnen… aber über die Entfernung ist es nicht immer einfach gewesen.“, murmelte ich und starrte auf meine abgewetzten Sneaker. Zumindest schob ich das Ganze auf die Entfernung und hoffte, dass ich recht hatte.
„Nun, jetzt bist du ja hier.“, brach er das kurze Schweigen. „Bestimmt ist es bald wie früher!“
Ich blickte auf und lächelte ihn an. Einen so einfühlsamen Menschen, der freundlich zu einer Unbekannten war, der überhaupt zu irgendjemandem so warmherzige Dinge sagte, hatte ich soweit ich mich erinnern konnte noch nie getroffen.
„Danke für deine Hilfe!“, sagte ich schnell, bevor ich es vergaß, doch er winkte ab.
„Ist doch selbstverständlich.“
„Ist es für mich nicht.“, fuhr ich ernst fort. „Du hast bestimmt auch besseres zu tun, als verwaiste Menschen vom Straßenrand aufzulesen!“
Er sah mich einen Moment schweigend an und ich bildete mir ein, dass er mir tiefer in die Augen blickte als zuvor. Nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen.
„Nein, da fällt mir gerade nicht sehr viel ein.“
Okay, er flirtete tatsächlich mit mir. Wir standen einige Augenblicke einfach da und lächelten uns an, bis eine Bewegung im Augenwinkel mich ablenkte. Dana lief über den Steinweg, der um das Haus herum gelegt war, auf uns zu. Ihre Schritte wirkten unsicher.
„Hey!“, rief ich erfreut. In all den Monaten, in denen ich sie nicht gesehen und selten ihre Stimme gehört hatte, hatte ich das Gefühl gehabt, dass zwei verschiedene Kontinente die Fähigkeit hätten, uns auseinanderzubringen. Doch das tolle an besten Freundinnen war: Traf man sich erst wieder und sah in die vertrauten Augen, kamen die ganzen Erinnerungen an die guten alten Zeiten wieder hoch. Es würde immer so sein, als wären wir achtzehn und als würde sie mich nach ihrem bestandenen Führerschein stolz mit dem Auto abholen, mit ihrer Mutter auf dem Beifahrersitz.
„Haaa-llooo.“, erklang ihre sanfte, immer etwas unbeholfene Stimme, tiefer als die der meisten Frauen. Ihre dunkelroten Haare waren, wie ich es von früher gewohnt war, sorgsam geglättet. Unter ihrem offenbar schnell übergeworfenen Parka trug sie eine geblümte Seidenbluse und eine schicke schwarze Hose. Businesslook mit typischem Dana-Romantik-Einfluss. Und ich dachte nie so viel über Kleidung nach, wenn ich nicht mit ihr zusammen war, dachte ich schmunzelnd, während ich auf sie zulief und sie umarmte.
„Ich bin so froh, endlich hier zu sein.“, sagte ich seufzend.
„Ich bin auch froh, dass du hier bist.“ Es klang ehrlich, aber ich hörte den seltsamen Unterton sofort heraus, war mir aber nicht sicher, was er bedeutete.
„Es ist doch wirklich okay, dass ich gekommen bin?“, erkundigte ich mich unsicher.
Sie riss die Augen auf. „Klaaar! Ich habe dich ja auch vermisst. Natürlich ist das okay, dass du gekommen bist!“
„Gut.“, lächelte ich.
Jemand räusperte sich laut hinter uns. Lucas trat dazu und stellte den Rucksack vor meine Füße
„Hallo Dana.“, grüßte er sie freundlich und wandte sich dann an mich. „Damit wärst du ja am Ziel und brauchst mich nicht mehr. Ich hoffe, du genießt deine Zeit hier!“
Ich strahlte ihn zum Abschied an. „Danke!“
„Kein Problem.“ Das wärmste Augenpaar der Welt leuchtete mich ein letztes Mal an, bevor er sich umdrehte und beschwingt zurück zu seinem Wagen marschierte. Sobald er die Tür zugeschlagen hatte, drehte ich mich wieder zu Dana, die ihn nachdenklich beobachtete.
„Also, ganz ehrlich – der hat doch ein paar Leichen im Keller oder?“, fragte ich in die Stille. Sie blinzelte und sah mich irritiert an, wusste aber nach kurzer Zeit, worauf ich hinauswollte und verzog die dunklen Lippen zu einem Grinsen.
„Irgendwie hoffe ich das sogar.“, antwortete sie.
„Er ist zu gut um es zu ertragen, hm?“
„Du sagst es.“




Die Holzdielen knarrten laut unter unseren Füßen. Dana schloss die Tür auf, die zu einer Einzimmerwohnung im Dachgeschoss führte. Ich trat hinter ihr ein und wurde von wohliger Wärme empfangen. Schnell wurde die Tür hinter mir wieder geschlossen, damit die kalte Luft nicht eindringen konnte.
„Es ist nichts großartiges… “, begann Dana, sich für die Wohnsituation zu entschuldigen. Rote Fließen bedeckten den Boden und die Wände waren komplett mit dunklem Holz getäfelt, was das Zimmer noch ein wenig kleiner wirken ließ. Ein großes, weißes Doppelbett befand sich zu meiner linken und ein gemütlich aussehendes, olivgrünes Sofa zu meiner rechten. Vor Kopf war eine winzige Kochnische mit einem noch winzigeren Hängeschrank. Die einzige weitere Tür, die sich zusätzlich zur Eingangstür in der Wohnung befand, führte vermutlich ins Bad. Außer einem kleinen Bücherregal und einer Kommode befand sich nichts hier drin.
„Passt doch.“, sagte ich.
„Ja, also, mir reicht es!“ Dana nickte, als müsste sie sich selbst überzeugen und betrachtete mich mit ihren hellgrünen Augen erwartungsvoll, als hätte sie die Befürchtung, dass meine Ansprüche nicht erfüllt wurden.
„Das einzige, worüber ich mir Gedanken mache, ist, dass ich dir den wenigen Platz auch noch streitig mache.“ Ich grinste sie entschuldigend an. „Sobald ich dir zu sehr auf die Nerven gehe, sag bescheid!“
„Ach, Unsinn! Alles in Ordnung!“, bekräftigte sie.
„Gut.“ Ich stellte meinen Rucksack neben die Couch und atmete tief durch. Ich war da. Endlich.
„Und… “ Ihre Stimme klang wieder unsicher. „Wie war die Abreise Zuhause?“
Ich drehte mich zu ihr um. Sie lächelte nervös und ich senkte den Blick, fummelte an meinem Rucksack herum. Ich wusste, dass sich das bald geben würde. Immer, wenn wir uns einige Zeit nicht sahen, betrachtete sie mich mit diesem Blick. Ich war mir nicht immer sicher, was er bedeutete, aber die meiste Zeit versuchte sie wohl einzuschätzen, ob wirklich alles in Ordnung zwischen uns war. Wir hatten schon eine interessante Freundschaft. Es gab nicht viele Menschen, die darauf bedacht waren, dass sich ihr gegenüber immer wohl fühlte, und die stets Angst davor hatten, dass es an ihnen selbst lag, wenn es nicht so war. Aber Dana war einer davon. Und wenn sie dieses Gefühl hatte, quatschte sie einen meist tot.
„Ich habe sie eigentlich nur… “ Ich kratzte mich am Kopf, ließ meinen Blick aus dem großen Fenster wandern, durch das man direkt in die Fenster des Nachbarhauses sehen konnte, wenn man sich frontal davorstellte. Blickte man jedoch seitlich an dem Nachbarhaus vorbei, war einem ein unfassbarer Blick auf die Gebirgskette vergönnt. Nachdenklich betrachtete ich die Schneeflocken, die sich zu dem alten Weiß auf den Grund gesellten. „… sozusagen davon in Kenntnis gesetzt, dass ich dich jetzt besuche. Und dann bin ich gefahren.“ Dana atmete hörbar aus.
„Reicht ja auch.“, sagte sie und ich hörte den sauren Ton heraus, der mich zum Lächeln brachte. Sie war mit meiner Familie ganz und gar nicht zufrieden.
„Daran will ich jetzt gar nicht denken.“, entschied ich.
„Verständlich.“ Sie seufzte und sah auf ihre vergoldete Armbanduhr. „Ich muss leider los, tut mir leid! Aber du bist bestimmt müde von der Reise und möchtest dich hinlegen. Du kannst dich auch ruhig ins Bett legen. Oder dir was aus dem Kühlschrank nehmen. Oder dich duschen. Oder ein wenig spazieren. Oder auspacken.“ Sie holte Luft. „Und wenn ich wiederkomme, können wir in der Stadt was essen gehen und alles bequatschen, okay?“
Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Der Redeschwall sagte mir nur, dass sie auftaute. „Alles klar. Wenn du wiederkommst, erzählst du mir, was für schmutzige Geheimnisse die Einwohner dieser viel zu entzückenden Stadt haben!“
„Das wird langweiliger als du denkst, aber gut!“, lachte sie, schloss ihren Parka und ergriff ihre Handtasche. „Bis später!“
Ich winkte ihr noch ein letztes Mal zu, bevor ich mich rückwärts aufs Sofa fallen ließ, das glücklicherweise so stand, dass ich hinter dem etwas fleckigen, holzumrahmten Fenster die Bergkette betrachten konnte. Ein dichtes Schneetreiben hatte draußen begonnen. Ouray also. In Ordnung. Bevor mich das dumpfe Gefühl, das Gedanken an Zuhause auslösten, wieder beschleichen konnten, schob ich sie weit von mir. Daran wollte ich nicht mehr denken. Mit einem letzten, tiefen Atemzug schlief ich vor Erschöpfung ein.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen