Inhalt
„Natürlich wurde ich… halb wahnsinnig vor – vor Druck. Von meinen Eltern, von den Prüfungen, von dem Gefühl, einfach nicht mehr die gleiche Luft zu atmen wie alle anderen um mich herum. Es gab nur noch die Aufgabe, alles so perfekt wie möglich zu machen, so tadellos. Das war so… “ Ich suchte nach dem richtigen Wort, stieß Luft aus den Lungen, die mir in der Brust wehtat. „… leblos.“ Shane sagte gar nichts. Er hörte mir einfach zu. Wieder einmal. Manchmal fragte ich mich, ob ich endgültig durchgedreht war und ihn mir bloß einbildete. Er war wie ein Therapeut. Seine Nähe war meine Therapie.Als Mia es Zuhause nicht mehr aushält, kauft sie kurzerhand ein Flugticket und landet in Ouray, Colorado. Was ihr endlich Frieden verschaffen sollte, stellt sich als Zerreißprobe heraus: statt allein durchs Land zu reisen, findet sie sich in einer Familie wieder, die ihre ganz eigenen Probleme hat.
Notizen
Softe Auseinandersetzung mit dem Thema Depression, Verdrängung. Beleuchtung der heutigen Generation, die oft die "verlorene" Generation genannt wird.Tags: Freundschaft, Humor, Romantik, Tragik
_________________________
Als
ich Ouray das erste Mal sah, lief gerade Back
to the River auf dem Mp3-Player, den ich meiner Schwester geklaut hatte.
Nach vielen Stunden auf Reise wusste ich noch immer nicht, was mich hier erwartete
– aber nach einer Stadt, in der Pretty Reckless auftreten würden, sahen die
vielen kleinen Cafés und Boutiquen eindeutig nicht aus. Ob ich mir einen Gefallen
damit getan hatte? Eigentlich spielte das keine Rolle. Es gab in meiner
Vorstellung keinen Ort, der ferner von alldem war, vor dem ich davonlief. Und
genau das machte das kleine Städtchen, das einem Heimatfilm entsprungen schien,
geradezu perfekt.
Ich
zog die Mütze tief ins Gesicht, als der Bus sich einen Weg durch die scheinbar
in Eis erstarrte Stadt bahnte. Meine Tasche hielt ich seit Stunden
festumklammert auf meinem Schoß. Beinahe hätte ich sie nicht mit in den Bus
nehmen dürfen, denn dem Fahrer gefiel es gar nicht, eine so große Tasche nicht
im Bauch des Fahrzeuges zu wissen. Letzten Endes hatte ich gewonnen,
vermutlich, weil er sich keine Verspätungen aufgrund von endlosen Diskussionen
leisten konnte oder genug hatte von unliebsamen Fahrgästen. Ich konnte seine
Arbeitsmüdigkeit nur zu gut nachvollziehen. Wahrscheinlich fuhr er jeden Tag
die gleiche Strecke durch das westliche Colorado, an den immer gleichen
Gebäuden vorbei, um die gleiche Art Fahrgäste zu transportieren, die mit ihm
über die Klimaanlage, unbequeme Sitze oder zu großes Handgepäck stritten. Der
ewig gleiche Trott. Bei dem Gedanken daran wurde mir schwindelig.
„Ouray.“,
brummte der untersetzte Mann mit Halbglatze in das Mikrofon.
Ich
stupste das blonde Mädchen neben mir an, das glücklicherweise noch keinen Ton
mit mir reden wollte. „Lässt du mich raus?“
„Ich
muss auch hier raus.“, erwiderte sie lustlos und streckte ihre Glieder, bevor
sie mich noch einmal musterte. „Du kommst doch nicht von hier, oder?“
Der
Bus hielt mit einem lauten Quietschen. Ungeduldig verstärkte sich der Griff um
meine Tasche. „Nein.“
Endlich
erhob sie sich, blieb jedoch in der Sitzreihe stehen. „Woher bist du denn?“
„Deutschland.“,
sagte ich knapp. „Kann ich jetzt endlich aussteigen?“
„Ist
ja gut, ist ja gut.“, murmelte sie. „Nur keine Eile. In Ouray sitzt man lange
genug fest.“ Sie schwang endlich ihren zugegebenermaßen hübschen Hintern aus
dem Weg. Meiner fühlte sich nach der ewigen Reise plattgedrückt und schlaff an.
Glücklich, nicht mehr sitzen zu müssen, kletterte ich ihr hinterher aus dem
Bus, nicht ohne einen missbilligenden Seitenblick vom Fahrer zu kassieren, als
ich die schwere Tasche über die Schulter warf.
Eiskalte,
frische Luft strömte in meine Lungen, während ich mich umsah. Nach wenigen
Schritten, die mich von dem Greyhound Bus
service entfernten, waren meine Socken bereits feucht und mein Körper
zitterte unter dünnen Jeans und Hoodie. Mit der freien Hand zog ich mir den
Schal übers Kinn. Nichtsdestotrotz bestaunte ich den malerischen Anblick, der
sich mir bot. Mehrere viktorianische Gebäude ragten in der Wintersonne in die
Höhe, allesamt unter einigen Zentimetern pudrigem Schnee versteckt. Die kleine
Stadt lag in einem Tal, umrahmt von bilderbuchartigen Bergen, deren weiße
Spitzen sich vor dem blauen Himmel absetzten. Ganz langsam wurde mir bewusst,
warum Ouray auch die Schweiz Amerikas genannt wurde.
„Kann
man dir helfen?“
Ich
schrak aus meinen Gedanken auf – und starrte auf eine Jacke. Während ich gegen
das Sonnenlicht anblinzelte, hob ich den Blick und sah einen hochgewachsenen
jungen Mann vor mir stehen. Mit freundlichen braunen Augen betrachtete er mich
und hatte ein so herzliches, offenes Gesicht, dass ich nicht anders konnte als
zu lächeln.
„Oh.
Ich stehe wohl etwas im Weg hier, hm?“, bemerkte ich lachend und sah mich auf
dem Gehweg um. Er lachte ebenfalls.
„Du
darfst gerne so lange im Weg stehen, wie du möchtest! Ich dachte mir bloß, dass
du etwas verloren aussiehst.“
„Da
ist was dran.“, seufzte ich und suchte die Umgebung ab. Wo steckte sie bloß?
„Kann
man dir helfen?“, wiederholte er, als ich nicht weitersprach.
„Hm…
“ Ich lagerte die Tasche unbeholfen um. „Meine Freundin wollte mich abholen.
Ich denke, sie wird gleich auftauchen.“ Einem Fremden sollte ich vielleicht nicht
zu viel erzählen. „Hoffe ich.“, fügte ich grinsend hinzu, um locker zu wirken
und ihn nicht auf die Idee zu bringen, dass ich in Not sei. Zu meiner
Enttäuschung ließ er einfach nicht locker.
„Wer
ist es denn? Hier kennt man eigentlich jeden. Deshalb fällst du auch so auf.“
Unter dunklen, langen Wimpern musterte er mich intensiv. Normalerweise würde
ich mich spätestens jetzt unwohl fühlen, aber etwas an seiner Art ließ mich
nicht eine Sekunde daran zweifeln, dass er der netteste Kerl der Welt war.
Andererseits… fingen so ziemlich viele Kriminal- und Horrorgeschichten an.
„Dana
Maurer.“, erwiderte ich, unsicher. Ich war es nicht gewohnt, dass Fremde
einfach anfingen, sich mit mir zu unterhalten. Geschweige denn, dass sich alle
Stadtbewohner untereinander kannten, da ich aus einer Großstadt kam. Ich liebte
meine Anonymität.
„Ach,
die hübsche Dana aus Deutschland!“, rief er. „Ich hätte es eigentlich wissen
müssen, dein Akzent verrät dich.“
Ich
zuckte mit den Schultern und sah mich wieder um. Der Bus war inzwischen fort
und somit auch jegliche Möglichkeit, wieder umzukehren. Umso besser. Das nahm
mir eine Entscheidung ab.
„Zufällig
arbeitet Dana bei unserer Nachbarin, Mrs Weaver. Ich kann dich hinbringen, wenn
du magst.“, bot er an und lächelte mich noch immer auf eine Art und Weise an,
die mich dazu brachte, mich vollkommen wohlzufühlen, während zeitgleich all
meine Alarmglocken losgingen.
„Ehm…
danke. Aber… nein, danke.“ Ich zwang mir ein unverbindliches Lächeln ins
Gesicht. „Sie hat versprochen, mich hier abzuholen. Am Ende verfehlen wir uns.“
Ich
sah, dass er sich abgewiesen fühlte. Dennoch trug er es mit Fassung und
lächelte weiterhin freundlich.
„Okay,
ich sag dir was,“, fuhr er fort. „du rufst deine Freundin an und hörst nach, ob
sie auf dem Weg ist. Ich kann dich wirklich nicht einfach in der Kälte stehen
lassen!“ Er lachte, als er das selbstverständlich, obwohl es das für mich
überhaupt nicht war. Er kannte mich überhaupt nicht. Mich würde es nicht
jucken, ihn irgendwo in der Kälte stehen zu lassen. Heckte er etwas aus? Oder
war er tatsächlich einfach bloß nett?
„Ich
habe kein Handy.“, erwiderte ich. Kurz darauf hielt er mir seines unter die
Nase. Verblüfft hob ich die Augenbrauen. Ohne das Handy weiter zu beachten,
schaute ich ihm genau in die Augen und suchte nach etwas.
„Was?“,
fragte er leicht verwirrt. Dennoch war von der Wärme nichts verschwunden.
„Seid
ihr hier alle so anhänglich?“, fragte ich spaßeshalber, während ich verlegen
den Blick senkte und nach dem Handy griff. Er lachte herzhaft.
„Wenn
ich dir auf die Nerven gehe, sag nur Bescheid!“
Das
tat er ganz und gar nicht. Er war lediglich eine… Abnormalität in einer Welt
wie dieser. Ja, das drückte ziemlich gut das aus, was mir gerade im Kopf
vorging. Einerseits hätte mein Start in dieser Stadt gar nicht herzlicher sein
können. Andererseits befürchtete ein Teil von mir immer noch, in tausend Stücke
gehackt und in schwarze Mülltüten gestopft zu werden. Während ich Danas Nummer
wählte, schmunzelte ich über meine eigene Fantasie. Aber man wusste ja nie.
Nachdem
ich Danas Nummer eingetippt hatte, ertönte ein Freizeichen. Ungeduldig, da ich
das Handy des Fremden nicht ewig in Anspruch nehmen wollte, wartete ich. Endlich
knackte die Leitung.
„Hallo?
Lucas?“, erklang das besorgte Stimme der Person, die zu meiner einzigen
Anlaufstelle geworden war.
„Hm,
fast.“, erwiderte ich, nun auf Deutsch. „Aber dann nehme ich an, dass ich
endlich den Namen von dem Typen kenne, der mich mit Willkommenskultur
überschüttet.“
„Mia!“,
rief sie perplex. „Was zum – warum hast du Lucas‘ Handy?“
„Die
Reise war etwas holprig, aber nach knapp zwei Tagen bin ich endlich angekommen.
Und wie geht’s dir so?“
Ich
hörte, wie sie tief durchatmete. „Tut mir wirklich leid, ich wollte ja
rechtzeitig da sein, aber naja, hier ist so viel los und diese Reisebusse sind
doch sonst nicht so pünktlich. Delta Airlines ist eigentlich auch nicht immer
zuverlässig, ich dachte, ein paar Minuten hätte ich noch. Ich musste Mrs Weaver
Essen machen, aber sie mochte es nicht, also musste ich –“
„Alles
gut!“, unterbrach ich ihren Wortschwall und musste trotz der Kälte grinsen. Ihr
typisches Geblubbere hatte ich vermisst. „Kann ja nicht jeder von uns mittellos
sein. Sag mir einfach, wo ich hinkommen soll oder wann du hier sein kannst,
dann vertreibe ich mir so lange die Zeit.“
„Ob
du da so viel findest.“, murmelte sie kaum hörbar. „Ich schicke einfach meine
Adresse an Lucas… warte, warum ist er denn jetzt bei dir?“
Ich
sah wieder in die geduldig wartenden, sehr braunen Augen mir gegenüber. Ein
angenehmer Schauer lief über meinen Rücken. „Das weiß nur Gott.“
„Okay…
können wir ja auch später drüber reden.“ Sie klang nicht gerade erfreut. „Ich
muss leider auflegen, tut mir leid. Aber ich bin froh, dass du heil angekommen
bist!“
„Danke.“,
sagte ich lächelnd. „Ich freue mich auf dich. Bis später.“
„Ich
freue mich auch. Bis dann!“
Damit
legte sie auf. Nun gut, ich wollte eh einfach nur in ihre Wohnung und mich auf
die versprochene Couch werfen. Die vergangenen achtundvierzig Stunden machten
mir ganz schön zu schaffen. Meine Augen brannten so sehr, dass sie vermutlich
kifferrot waren – was das wohl für einen Eindruck auf Lucas machte? Ich hatte zudem
das Gefühl, dass meine Kleidung tierisch muffte. Seufzend gab ich Lucas das
Handy zurück.
„Vielen
Dank. Sie schickt dir gleich eine Adresse, wäre toll, wenn du wartest, bis ich
sie mir auf einen Zettel schreiben kann.“ Vorsorglich kramte ich bereits in der
Vordertasche meines Rucksacks, in der immer Stifte und Papier auf mich
warteten.
Lucas
bedachte mich mit einem seltsamen Blick. „Du kennst dich doch gar nicht hier
aus.“
„Das
schaffe ich schon.“ Ich schenkte ihm ein weiteres unverbindliches Lächeln. „Ich
bin ja ein großes Mädchen.“
Er
schmunzelte kopfschüttelnd. „Das glaube ich dir aufs Wort.“ Seine Augen
musterten mich zum ersten Mal genauer und ich begann, ein wenig nervös zu
werden, während ich darüber grübelte, wie er das wohl meinte.
In
diesem Moment piepte sein Handy. Zum Glück hatte Dana sich beeilt – wer wusste,
wo diese Situation noch hinführte. Lucas scrollte die Nachricht hinunter und
runzelte die Stirn.
„Was?
Stimmt was nicht?“, fragte ich unsicher. Seine Augen richteten sich wieder auf
mich, unschlüssig.
„Hör
mal, ich weiß, du hast genug davon,“, sagte er auf einmal mit ernster Miene.
Seine Stimme war einen Ton leiser und dunkler geworden. Ohne, dass ich es
wollte, war ich ein wenig verzaubert von seiner Ausstrahlung. „aber das ist
wirklich direkt neben mir und ich bin eh auf dem Weg nach Hause. Ich kann dich
wirklich mitnehmen! Und auch wenn ich mich dir so aufdränge, ich bin kein
Verrückter.“ Das Lächeln schlich sich zurück um seine Mundwinkel. „Zumindest hat
mir das noch niemand gesagt!“
Einen
Augenblick lang sahen wir uns einfach nur an. Das vertrauenswürdige Himmelblau
funkelte mir geduldig entgegen, während die Gedanken in meinem Kopf allmählich
zum Erliegen kamen. Immerhin hatte ich diese Reise unternommen, um mich auf
mehr einzulassen, um etwas anderes zu entdecken als ein neues Muster auf der
Küchentapete daheim. Außerdem kannte Dana ihn und sie wusste, dass er mich als
letztes gesehen hatte, sollte er mich doch umbringen. Ein wichtiges Detail für
die Polizei.
„Okay.“,
erwiderte ich schlicht, bevor ich den Kopf schief legte und ihn noch
eingehender betrachtete. Dichte, aber wohlgeformte Augenbrauen verliehen seinem
markanten Gesicht Charakter. Für sein voriges Stirnrunzeln wurde er nun mit
kaum sichtbaren Falten gestraft, die sich über seine gebräunte Haut zogen. Dazu
gesellten sich auf einmal Lachfalten um seine Augenwinkel. Er lachte mich wohl
aus.
„Und,
halte ich der Musterung stand oder hast du mich bereits als Serienkiller
abgestempelt?“
„Dich
würde keiner verdächtigen und genau deshalb wärst du in einer Mordserie Idealbesetzung.“,
erwiderte ich prompt und verengte gespielt nachdenklich die Augen. Ich war
froh, dass er mein Gaffen für eine Vertrauensprüfung hielt. „Wie korrupt ist
die Polizei in Colorado?“
„Na,
jetzt komm mit!“ Er griff grinsend nach meinem Rucksack, den ich ihm wehrlos
überließ. Er hätte mich ja doch gezwungen, ihn mein Gepäck tragen zu lassen.
„Lass uns besser fahren, bevor die Einwohner uns hören und ich mich mit dem
Sheriff duellieren muss.“
Ich
lachte auf. Plötzlich war ich überhaupt nicht mehr unangenehm davon berührt,
dass mir ein Fremder Hilfe anbot. Jeder Mensch, der imstande war, sinnlosen
Quatsch mit mir zu erspinnen, fand erst einmal einen Platz in meinem Herzen.
Während
der ziemlich kurzen Fahrt in Lucas‘ schwarzem Cadillac, durfte ich Ouray ganz
in Ruhe betrachten. Dieses kleine, eingeschneite Bergstädtchen hatte wirklich
seinen Charme. Dass ich es geschafft hatte, tatsächlich irgendwann in meinem
Leben in die USA zu reisen, wie so viele Leute es sich erträumen, und dann
ausgerechnet in einem solchen Örtchen zu landen, ließ mich den Kopf schütteln.
Aber es ließ sich nicht von der Hand weisen, dass es mir gefiel, nicht zu
wissen, was auf mich zukommen würde. Ein erwartungsvolles Kribbeln breitete
sich in meinem Magen aus, strömte durch meine Arme, bis meine Finger ungeduldig
zu trommeln begannen. So idyllisch diese Stadt auch wirkte, ich wusste, dass
ich bereit war für neue Erfahrungen und für das Leben, über das ich in meinem
Alltag bisher nur lesen durfte. Ich würde mein Abenteuer schon noch finden.
Schließlich
saß ich gerade bereits neben einem freundlichen und unheimlich hübschen Mann.
Nach einem Liebesabenteuer suchte ich zwar nicht, aber was sprach dagegen, die
Reise auf diese Weise zu beginnen? Ich würde meinen Verstand für alles öffnen.
Gedankenverloren warf ich ihm einen Seitenblick zu. Sportlich schien er zu
sein, durchaus trainiert. Die schlechteste Wahl wäre er definitiv nicht.
„Also…
erfahre ich noch deinen Namen, bevor ich endlich von dir ablassen muss?“,
erkundigte sich dieser Mann gerade. Himmel, er hatte recht!
„Oh,
das hab ich ganz vergessen.“ Ich lachte über meine Unhöflichkeit. „Das war
tatsächlich etwas unhöflich von mir. Wobei… deinen Namen weiß ich ja auch nur
dank Dana.“
„Einigen
wir uns darauf, dass unsere Eltern uns beide besser hätten erziehen müssen.“,
grinste er. Ich erwiderte dieses Grinsen eine Spur aufgesetzter, überging den
Kommentar jedoch.
„Nenn
mich einfach Mia.“, sagte ich dann leise. „Das tut jeder.“
„Okay.
Mia.“ Er lächelte mir zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte und
kurz darauf in eine Einfahrt einbog. „Und damit wären wir auch schon da.“
Neugierig
sah ich aus dem Fenster. Ein Haus komplett aus dunklem Holz gezimmert türmte
sich vor dem Bergpanorama auf. Die drei Etagen waren durch Außentreppen
miteinander verbunden. Das Ganze wirkte eher wie ein Appartement-Komplex.
Verwirrt drehte ich mich zu Lucas um, der sich bereits abgeschnallt hatte und
mich erwartungsvoll ansah.
„Oh,
sorry.“, murmelte ich, löste ebenfalls den Gurt und stieg aus, ging ein paar
Schritte auf das Haus zu. Die eiskalte Luft kroch zurück in meine Kleidung.
Sofort vermisste ich den Komfort der Sitzheizung.
„Du
scheinst etwas anderes erwartet zu haben!“, rief Lucas von der anderen
Autoseite aus, während er meinen Rucksack aus dem Kofferraum holte.
„Nun…
sie meinte, sie hilft einer älteren Dame und du sagtest auch, sie arbeitet
‚nebenan bei Mrs Weaver‘… da nahm ich an… “
„…
dass sie einer schwerfälligen Lady im Haushalt hilft?“, lachte er, wodurch ich
mich ein wenig dumm fühlte. Was für einen Eindruck machte das wohl, wenn man
durch die halbe Welt reiste ohne zu wissen, wo man eigentlich hinwollte?
Andererseits war genau das der Gedanke dabei gewesen.
„Mrs
Weaver gehören viele Immobilien hier in der Stadt.“, erklärte Lucas und trat
neben mich. „Sie vermietet sie an Reisende. Dana ist… naja, theoretisch für die
Promotion und Vermittlung zuständig, aber praktisch lässt Mrs Weaver sie
meistens den Dreck wegräumen.“ Seine Miene verdüsterte sich.
„Ihr
habt wohl viel miteinander zu tun?“, fragte ich und musterte sein Gesicht, dass
sich überrascht wieder erhellte.
„Oh,
nein! Wir sind Nachbarn und laufen uns manchmal über den Weg.“ Er lächelte mich
an. „Ich sag doch, hier weiß jeder alles über jeden. Also weiß ich auch über
Dana Bescheid. Offensichtlich im Gegensatz zu dir.“
Das
saß. Ich seufzte tief. „Wir sind die besten Freundinnen… aber über die
Entfernung ist es nicht immer einfach gewesen.“, murmelte ich und starrte auf
meine abgewetzten Sneaker. Zumindest schob ich das Ganze auf die Entfernung und
hoffte, dass ich recht hatte.
„Nun,
jetzt bist du ja hier.“, brach er das kurze Schweigen. „Bestimmt ist es bald
wie früher!“
Ich
blickte auf und lächelte ihn an. Einen so einfühlsamen Menschen, der freundlich
zu einer Unbekannten war, der überhaupt zu irgendjemandem so warmherzige Dinge
sagte, hatte ich soweit ich mich erinnern konnte noch nie getroffen.
„Danke
für deine Hilfe!“, sagte ich schnell, bevor ich es vergaß, doch er winkte ab.
„Ist
doch selbstverständlich.“
„Ist
es für mich nicht.“, fuhr ich ernst fort. „Du hast bestimmt auch besseres zu
tun, als verwaiste Menschen vom Straßenrand aufzulesen!“
Er
sah mich einen Moment schweigend an und ich bildete mir ein, dass er mir tiefer
in die Augen blickte als zuvor. Nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen.
„Nein,
da fällt mir gerade nicht sehr viel ein.“
Okay,
er flirtete tatsächlich mit mir. Wir standen einige Augenblicke einfach da und
lächelten uns an, bis eine Bewegung im Augenwinkel mich ablenkte. Dana lief
über den Steinweg, der um das Haus herum gelegt war, auf uns zu. Ihre Schritte
wirkten unsicher.
„Hey!“,
rief ich erfreut. In all den Monaten, in denen ich sie nicht gesehen und selten
ihre Stimme gehört hatte, hatte ich das Gefühl gehabt, dass zwei verschiedene
Kontinente die Fähigkeit hätten, uns auseinanderzubringen. Doch das tolle an
besten Freundinnen war: Traf man sich erst wieder und sah in die vertrauten
Augen, kamen die ganzen Erinnerungen an die guten alten Zeiten wieder hoch. Es
würde immer so sein, als wären wir achtzehn und als würde sie mich nach ihrem
bestandenen Führerschein stolz mit dem Auto abholen, mit ihrer Mutter auf dem
Beifahrersitz.
„Haaa-llooo.“,
erklang ihre sanfte, immer etwas unbeholfene Stimme, tiefer als die der meisten
Frauen. Ihre dunkelroten Haare waren, wie ich es von früher gewohnt war,
sorgsam geglättet. Unter ihrem offenbar schnell übergeworfenen Parka trug sie
eine geblümte Seidenbluse und eine schicke schwarze Hose. Businesslook mit
typischem Dana-Romantik-Einfluss. Und ich dachte nie so viel über Kleidung
nach, wenn ich nicht mit ihr zusammen war, dachte ich schmunzelnd, während ich
auf sie zulief und sie umarmte.
„Ich
bin so froh, endlich hier zu sein.“, sagte ich seufzend.
„Ich
bin auch froh, dass du hier bist.“ Es klang ehrlich, aber ich hörte den
seltsamen Unterton sofort heraus, war mir aber nicht sicher, was er bedeutete.
„Es
ist doch wirklich okay, dass ich gekommen bin?“, erkundigte ich mich unsicher.
Sie
riss die Augen auf. „Klaaar! Ich habe dich ja auch vermisst. Natürlich ist das
okay, dass du gekommen bist!“
„Gut.“,
lächelte ich.
Jemand
räusperte sich laut hinter uns. Lucas trat dazu und stellte den Rucksack vor
meine Füße
„Hallo
Dana.“, grüßte er sie freundlich und wandte sich dann an mich. „Damit wärst du
ja am Ziel und brauchst mich nicht mehr. Ich hoffe, du genießt deine Zeit
hier!“
Ich
strahlte ihn zum Abschied an. „Danke!“
„Kein
Problem.“ Das wärmste Augenpaar der Welt leuchtete mich ein letztes Mal an,
bevor er sich umdrehte und beschwingt zurück zu seinem Wagen marschierte.
Sobald er die Tür zugeschlagen hatte, drehte ich mich wieder zu Dana, die ihn
nachdenklich beobachtete.
„Also,
ganz ehrlich – der hat doch ein paar Leichen im Keller oder?“, fragte ich in
die Stille. Sie blinzelte und sah mich irritiert an, wusste aber nach kurzer
Zeit, worauf ich hinauswollte und verzog die dunklen Lippen zu einem Grinsen.
„Irgendwie
hoffe ich das sogar.“, antwortete sie.
„Er
ist zu gut um es zu ertragen, hm?“
„Du
sagst es.“
Die
Holzdielen knarrten laut unter unseren Füßen. Dana schloss die Tür auf, die zu
einer Einzimmerwohnung im Dachgeschoss führte. Ich trat hinter ihr ein und
wurde von wohliger Wärme empfangen. Schnell wurde die Tür hinter mir wieder
geschlossen, damit die kalte Luft nicht eindringen konnte.
„Es
ist nichts großartiges… “, begann Dana, sich für die Wohnsituation zu
entschuldigen. Rote Fließen bedeckten den Boden und die Wände waren komplett
mit dunklem Holz getäfelt, was das Zimmer noch ein wenig kleiner wirken ließ.
Ein großes, weißes Doppelbett befand sich zu meiner linken und ein gemütlich
aussehendes, olivgrünes Sofa zu meiner rechten. Vor Kopf war eine winzige
Kochnische mit einem noch winzigeren Hängeschrank. Die einzige weitere Tür, die
sich zusätzlich zur Eingangstür in der Wohnung befand, führte vermutlich ins
Bad. Außer einem kleinen Bücherregal und einer Kommode befand sich nichts hier
drin.
„Passt
doch.“, sagte ich.
„Ja,
also, mir reicht es!“ Dana nickte, als müsste sie sich selbst überzeugen und
betrachtete mich mit ihren hellgrünen Augen erwartungsvoll, als hätte sie die
Befürchtung, dass meine Ansprüche nicht erfüllt wurden.
„Das
einzige, worüber ich mir Gedanken mache, ist, dass ich dir den wenigen Platz
auch noch streitig mache.“ Ich grinste sie entschuldigend an. „Sobald ich dir
zu sehr auf die Nerven gehe, sag bescheid!“
„Ach,
Unsinn! Alles in Ordnung!“, bekräftigte sie.
„Gut.“
Ich stellte meinen Rucksack neben die Couch und atmete tief durch. Ich war da.
Endlich.
„Und…
“ Ihre Stimme klang wieder unsicher. „Wie war die Abreise Zuhause?“
Ich
drehte mich zu ihr um. Sie lächelte nervös und ich senkte den Blick, fummelte
an meinem Rucksack herum. Ich wusste, dass sich das bald geben würde. Immer,
wenn wir uns einige Zeit nicht sahen, betrachtete sie mich mit diesem Blick.
Ich war mir nicht immer sicher, was er bedeutete, aber die meiste Zeit
versuchte sie wohl einzuschätzen, ob wirklich alles in Ordnung zwischen uns
war. Wir hatten schon eine interessante Freundschaft. Es gab nicht viele
Menschen, die darauf bedacht waren, dass sich ihr gegenüber immer wohl fühlte,
und die stets Angst davor hatten, dass es an ihnen selbst lag, wenn es nicht so
war. Aber Dana war einer davon. Und wenn sie dieses Gefühl hatte, quatschte sie
einen meist tot.
„Ich
habe sie eigentlich nur… “ Ich kratzte mich am Kopf, ließ meinen Blick aus dem
großen Fenster wandern, durch das man direkt in die Fenster des Nachbarhauses
sehen konnte, wenn man sich frontal davorstellte. Blickte man jedoch seitlich
an dem Nachbarhaus vorbei, war einem ein unfassbarer Blick auf die Gebirgskette
vergönnt. Nachdenklich betrachtete ich die Schneeflocken, die sich zu dem alten
Weiß auf den Grund gesellten. „… sozusagen davon in Kenntnis gesetzt, dass ich
dich jetzt besuche. Und dann bin ich gefahren.“ Dana atmete hörbar aus.
„Reicht
ja auch.“, sagte sie und ich hörte den sauren Ton heraus, der mich zum Lächeln
brachte. Sie war mit meiner Familie ganz und gar nicht zufrieden.
„Daran
will ich jetzt gar nicht denken.“, entschied ich.
„Verständlich.“
Sie seufzte und sah auf ihre vergoldete Armbanduhr. „Ich muss leider los, tut
mir leid! Aber du bist bestimmt müde von der Reise und möchtest dich hinlegen.
Du kannst dich auch ruhig ins Bett legen. Oder dir was aus dem Kühlschrank
nehmen. Oder dich duschen. Oder ein wenig spazieren. Oder auspacken.“ Sie holte
Luft. „Und wenn ich wiederkomme, können wir in der Stadt was essen gehen und
alles bequatschen, okay?“
Ich
musste mir ein Grinsen verkneifen. Der Redeschwall sagte mir nur, dass sie
auftaute. „Alles klar. Wenn du wiederkommst, erzählst du mir, was für
schmutzige Geheimnisse die Einwohner dieser viel zu entzückenden Stadt haben!“
„Das
wird langweiliger als du denkst, aber gut!“, lachte sie, schloss ihren Parka
und ergriff ihre Handtasche. „Bis später!“
Ich
winkte ihr noch ein letztes Mal zu, bevor ich mich rückwärts aufs Sofa fallen
ließ, das glücklicherweise so stand, dass ich hinter dem etwas fleckigen,
holzumrahmten Fenster die Bergkette betrachten konnte. Ein dichtes
Schneetreiben hatte draußen begonnen. Ouray also. In Ordnung. Bevor mich das
dumpfe Gefühl, das Gedanken an Zuhause auslösten, wieder beschleichen konnten,
schob ich sie weit von mir. Daran wollte ich nicht mehr denken. Mit einem
letzten, tiefen Atemzug schlief ich vor Erschöpfung ein.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen