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Der Duft von
köstlichem Apfelkuchen drang in jede Ritze von Frau Brünings Wohnung, nachdem
sie die heiße Backform aus dem Ofen beförderte. Zufrieden über das leicht
gebräunte Ergebnis stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Welch herrliche
Gerüche es doch nur in kalten Wintern wie diesem gab! Nebst deftigen Eintöpfen
im Herbst war der Winter zumindest kulinarisch gesehen ihre liebste Jahreszeit.
Mit beschwingtem, wenn auch altersbedingt schwerfälligem Gang trug sie den
Kuchen hinüber zur Fensterbank, wo er auskühlen sollte. Vorsichtig zupfte sie
die Gardine zur Seite und warf einen prüfenden Blick auf die Straße, die grau
und mit teils vereisten Stellen vor ihr lag. In ihrem Städtchen war man an trübe
Tage gewohnt, doch dieser schien eine besonders triste Farbe anzunehmen. Nicht
ein Sonnenstrahl drang aus der Wolkendecke, die drückend über den Bewohnern der
Hausnummer 333b wachte.
Frau Brüning ihren
Ausguck verlassen und einen tiefen Seufzer ausstoßen. Doch der blieb ihr im
Halse stecken, als ihr ein schockierender Schatten ins Auge fiel. Dieser hätte sich
ihrem Sichtfeld beinahe entzogen, wäre sie nicht eine überaus aufmerksame
Person, die sich damit beauftragt sah, ihre Nachbarn und sich selbst vor allen
Individualitäten zu schützen. Vorsichtig hob sie den dampfenden Kuchen von der
Fensterbank auf den kleinen, in weiße Spitze gehüllten Esstisch, der sich
direkt hinter dem Fenster befand, um ihr zu ermöglichen, auch während der
Dinierzeit einen Bericht der Nachbarschaftsgeschehnisse anzufertigen. Dann
öffnete Frau Brüning das knarrende Fenster und empfing den eisigen Nordostwind.
Soweit es ihr möglich war, beugte sie sich hinaus und spähte nach rechts um die
Häuserecke, hinter der man geschäftig plauderte. Was da nur los war? War etwas
passiert? So schnell es ihr möglich war, zog sie ihren schwarzen Wollmantel
über, tauschte die Filzpantoffeln gegen ihre spitz zulaufenden Stiefeletten und
eilte aus der Wohnung hinaus. Bei ihrer Flucht stieß sie ungewollt mit der
scharfen Kante des Esstischs zusammen, der sich schmerzhaft in ihre Hüfte
bohrte. Doch für langes Fluchen blieb keine Zeit.
Als sie auf die Straße
trat, umfing der Nordostwind sie erneut und blies in jede noch so kleine
Öffnung ihrer Kleidung. Fröstelnd verschränkte Frau Brüning ihre Hände
ineinander, hob jedoch stolz ihren Kopf und spazierte die wenigen Meter auf die
Lärmquelle zu. Zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass das kleine
herrliche Lädchen, in dem ihre Freundin Minna bis vor kurzem die schönsten
Blumensträuße der ganzen Stadt gebunden hatte, einen neuen Pächter gefunden
hatte. Misstrauisch betrachtete sie den Umzugswagen, aus dem fleißig schwere
Kisten geschleppt wurden. Die Sprache, die gebraucht wurde, um den Frust über das
Gewicht der Sachen loszuwerden, klang in ihren Ohren absolut absurd. Mit festem
Schritt trat sie an den Umzugswagen heran und rief: „Guten Tag!“ Niemand nahm
von ihr Notiz. Ein hochgewachsener Junge lieferte sich ein Wortgefecht mit
einem wutschnaubenden Mann. „Guten Tag!“, rief sie noch einmal, dieses Mal
etwas lauter, und klopfte mit ihrer kleinen Faust auf die Luke des Wagens, um
die Aufmerksamkeit ihrer neuen Nachbarn zu erlangen. Durch das nahe blecherne
Geräusch aufgeschreckt, sahen die beiden Neulinge überrascht auf.
„Hallo.“, sagte der
Junge und wurde gleich darauf von seinem Vater geschubst.
„Sei höflich!“, raunte
er ihn an.
Widerwillig, jedoch
einsichtig setzte der Junge eine Stehlampe ab, sprang aus dem Wagen und neigte
leicht den Kopf. „Guten Tag, ich bin Tae.“
Erstaunt über diese
Reaktion, nickte Frau Brüning ihm kurz zu und blickte dann wieder zu dem Mann,
der wohl sein Vater sein musste. „Sie ziehen wohl hier ein?“, fragte sie.
„Oh, Sie sind unsere
neue Nachbarin!“, stellte der Mann aufgeregt fest und kletterte nun ebenfalls
zu ihr hinunter. „Ich bin Herr Lee! Ich freue mich!“ Er streckte die Hand aus,
doch bevor sie die Chance hatte, diese zu ergreifen, hatte er die ihre bereits
fest umschlossen und schüttelte sie aufgeregt. „Ich hatte Angst, weil ich nur
junge Leute getroffen habe. Aber eine ehrenwerte ältere Frau zu treffen, ist
ein Segen!“
Sein Akzent erschwerte
es Frau Brüning, dem Wortschwall zu folgen. Sie kniff die Lippen zusammen. „Für
wie alt halten Sie mich denn?“
Der Mann erblasste.
„Ohh… nein, nein, so war das nicht gemeint!“ Er verdrehte die Augen zum Himmel
und klagte: „Diese Sprache! Diese Leute!“
„Mein Vater bemüht
sich, alle Redewendungen zu lernen, aber manchmal unterlaufen ihm noch
Fehler.“, erklärte Tae, der von eindeutig ruhigerer Natur war als sein Vater.
Frau Brüning verkniff
sich den Kommentar, dass sein Deutsch für jemanden, der die Sprache noch
lernte, sehr beeindruckend war. Sie dachte nicht daran, ein Kompliment fallen
zu lassen. Stattdessen deutete sie auf den kleinen Laden. „Sie ziehen wohl in
die Wohnung über das Geschäft?“
„Wir ziehen in die
Wohnung, ja!“, rief der Mann nun wieder freudestrahlend. „Wir haben lange nach
einer hübschen Gegend gesucht. Ihre Straße ist eine gute Straße!“
„Darf man annehmen,
dass Sie sich auch aus gewerblichen Zwecken hier einmieten?“, hakte sie weiter
nach, während sie ihren Mantel enger um ihren Körper schlang. Der Himmel wurde
immer düsterer. Vermutlich wurde es spätestens morgen zu schneien beginnen.
Der Mann sah sie
verständnislos an. Tae, dem die Unterhaltung unangenehm zu sein schien, sprang
ein.
„Wir bieten Essen
an.“, sagte er. „Aus unserer Heimat.“
Frau Brüning wurde
blass. „Ein China-Restaurant? Neben unserem Mietshaus?“ Das hatte ihr gerade
noch gefehlt. Es war doch eine allgemein bekannte Tatsache, dass solche Läden
insgeheim oft getarnte Geldwäschereien waren, in denen die dubiosesten
Gestalten ein und aus gingen.
„Oh nein, kein
China-Restaurant!“, empörte sich ihr neuer Nachbar. „Sehe ich etwa aus wie ein
Chinese?“
Frau Brüning
erwartete, dass Tae wieder einsprang, doch dessen Aufmerksamkeit schien
abgedriftet zu sein. Er fixierte gedankenverloren einen Punkt hinter ihr. „Und
woher kommen Sie?“, fragte sie daher nach.
„Wir sind Koreaner!“,
rief er stolz und legte den Arm um seinen Sohn, der aus seinen Gedanken
erwachte und peinlich berührt zu seinem Vater aufsah.
Frau Brüning starrte
ihn an. Ein Koreaner. Nicht nur das, eine ganze Koreaner-Familie!
„Ah, ich weiß, was Sie
denken.“, murrte er. „Nicht Nordkorea! Wir sind aus Südkorea. Jeder denkt
zuerst an Nordkorea!“ Er schien sich ernstlich zu ärgern, denn er wurde immer
lauter und redete immer schneller. „Ich bin NICHT Kim Jong-Un!“
„Appa!“, zischte Tae
und zupfte seinem Vater am Hemdsaum. „Nicht so laut!“
Frau Brüning verlor
allmählich die Geduld. „Was für ein Restaurant eröffnen Sie denn nun?“, fragte
sie, während sie aus ihrer Tasche ein besticktes Taschentuch zog und ihre kalte
Nase betupfte.
Herr Lee schien an den
Grenzen seiner Höflichkeit angekommen zu sein. Er schnappte sich die Stehlampe
aus dem Laderaum, während er Frau Brüning fixierte, und sagte: „Mein Sohn und
ich bieten bald das beste Essen der Stadt an!“
„Ihr Sohn?!“, rief
Frau Brüning. „Sollte der denn nicht besser zu Schule gehen, damit aus ihm mal
etwas wird?“
Bevor sein Vater
seinem Wutausbruch freien Lauf lassen konnte, wurde Tae wieder aktiv und sagte,
wenn auch ein wenig knauserig: „Ich bin zweiundzwanzig und arbeite bereits seit
drei Jahren in dem Geschäft meines Vaters.“
Verblüfft musterte
Frau Brüning den Jungen. Bei asiatischen Menschen war sie noch nie in der Lage
gewesen, ihre sonst so zuverlässige Alterseinschätzung anzuwenden. Verärgert
über ihren eigenen Fehler hob sie ihr Kinn an und fragte kühl: „Und was für
Essen kann man bei Ihnen bestellen?“
Herr Lee schnaubte.
„Das werden Sie sehen!“ Damit trug er die Lampe in das Haus hinein und
verschwand aus Frau Brünings Sichtfeld, die mehr als brüskiert darüber war, von
einem Nachbarn stehen gelassen zu werden.
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