Freitag, 1. September 2017

Kapitel 1: Hausnummer 333

Ein neues Projekt, bei dem es um das Innenleben eines Miethauses geht. Missverständnisse, romantische Verwicklungen und jede Menge Chaos inklusive.







Der Duft von köstlichem Apfelkuchen drang in jede Ritze von Frau Brünings Wohnung, nachdem sie die heiße Backform aus dem Ofen beförderte. Zufrieden über das leicht gebräunte Ergebnis stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Welch herrliche Gerüche es doch nur in kalten Wintern wie diesem gab! Nebst deftigen Eintöpfen im Herbst war der Winter zumindest kulinarisch gesehen ihre liebste Jahreszeit. Mit beschwingtem, wenn auch altersbedingt schwerfälligem Gang trug sie den Kuchen hinüber zur Fensterbank, wo er auskühlen sollte. Vorsichtig zupfte sie die Gardine zur Seite und warf einen prüfenden Blick auf die Straße, die grau und mit teils vereisten Stellen vor ihr lag. In ihrem Städtchen war man an trübe Tage gewohnt, doch dieser schien eine besonders triste Farbe anzunehmen. Nicht ein Sonnenstrahl drang aus der Wolkendecke, die drückend über den Bewohnern der Hausnummer 333b wachte.
Frau Brüning ihren Ausguck verlassen und einen tiefen Seufzer ausstoßen. Doch der blieb ihr im Halse stecken, als ihr ein schockierender Schatten ins Auge fiel. Dieser hätte sich ihrem Sichtfeld beinahe entzogen, wäre sie nicht eine überaus aufmerksame Person, die sich damit beauftragt sah, ihre Nachbarn und sich selbst vor allen Individualitäten zu schützen. Vorsichtig hob sie den dampfenden Kuchen von der Fensterbank auf den kleinen, in weiße Spitze gehüllten Esstisch, der sich direkt hinter dem Fenster befand, um ihr zu ermöglichen, auch während der Dinierzeit einen Bericht der Nachbarschaftsgeschehnisse anzufertigen. Dann öffnete Frau Brüning das knarrende Fenster und empfing den eisigen Nordostwind. Soweit es ihr möglich war, beugte sie sich hinaus und spähte nach rechts um die Häuserecke, hinter der man geschäftig plauderte. Was da nur los war? War etwas passiert? So schnell es ihr möglich war, zog sie ihren schwarzen Wollmantel über, tauschte die Filzpantoffeln gegen ihre spitz zulaufenden Stiefeletten und eilte aus der Wohnung hinaus. Bei ihrer Flucht stieß sie ungewollt mit der scharfen Kante des Esstischs zusammen, der sich schmerzhaft in ihre Hüfte bohrte. Doch für langes Fluchen blieb keine Zeit.
Als sie auf die Straße trat, umfing der Nordostwind sie erneut und blies in jede noch so kleine Öffnung ihrer Kleidung. Fröstelnd verschränkte Frau Brüning ihre Hände ineinander, hob jedoch stolz ihren Kopf und spazierte die wenigen Meter auf die Lärmquelle zu. Zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass das kleine herrliche Lädchen, in dem ihre Freundin Minna bis vor kurzem die schönsten Blumensträuße der ganzen Stadt gebunden hatte, einen neuen Pächter gefunden hatte. Misstrauisch betrachtete sie den Umzugswagen, aus dem fleißig schwere Kisten geschleppt wurden. Die Sprache, die gebraucht wurde, um den Frust über das Gewicht der Sachen loszuwerden, klang in ihren Ohren absolut absurd. Mit festem Schritt trat sie an den Umzugswagen heran und rief: „Guten Tag!“ Niemand nahm von ihr Notiz. Ein hochgewachsener Junge lieferte sich ein Wortgefecht mit einem wutschnaubenden Mann. „Guten Tag!“, rief sie noch einmal, dieses Mal etwas lauter, und klopfte mit ihrer kleinen Faust auf die Luke des Wagens, um die Aufmerksamkeit ihrer neuen Nachbarn zu erlangen. Durch das nahe blecherne Geräusch aufgeschreckt, sahen die beiden Neulinge überrascht auf.
„Hallo.“, sagte der Junge und wurde gleich darauf von seinem Vater geschubst.
„Sei höflich!“, raunte er ihn an.
Widerwillig, jedoch einsichtig setzte der Junge eine Stehlampe ab, sprang aus dem Wagen und neigte leicht den Kopf. „Guten Tag, ich bin Tae.“
Erstaunt über diese Reaktion, nickte Frau Brüning ihm kurz zu und blickte dann wieder zu dem Mann, der wohl sein Vater sein musste. „Sie ziehen wohl hier ein?“, fragte sie.
„Oh, Sie sind unsere neue Nachbarin!“, stellte der Mann aufgeregt fest und kletterte nun ebenfalls zu ihr hinunter. „Ich bin Herr Lee! Ich freue mich!“ Er streckte die Hand aus, doch bevor sie die Chance hatte, diese zu ergreifen, hatte er die ihre bereits fest umschlossen und schüttelte sie aufgeregt. „Ich hatte Angst, weil ich nur junge Leute getroffen habe. Aber eine ehrenwerte ältere Frau zu treffen, ist ein Segen!“
Sein Akzent erschwerte es Frau Brüning, dem Wortschwall zu folgen. Sie kniff die Lippen zusammen. „Für wie alt halten Sie mich denn?“
Der Mann erblasste. „Ohh… nein, nein, so war das nicht gemeint!“ Er verdrehte die Augen zum Himmel und klagte: „Diese Sprache! Diese Leute!“
„Mein Vater bemüht sich, alle Redewendungen zu lernen, aber manchmal unterlaufen ihm noch Fehler.“, erklärte Tae, der von eindeutig ruhigerer Natur war als sein Vater.
Frau Brüning verkniff sich den Kommentar, dass sein Deutsch für jemanden, der die Sprache noch lernte, sehr beeindruckend war. Sie dachte nicht daran, ein Kompliment fallen zu lassen. Stattdessen deutete sie auf den kleinen Laden. „Sie ziehen wohl in die Wohnung über das Geschäft?“
„Wir ziehen in die Wohnung, ja!“, rief der Mann nun wieder freudestrahlend. „Wir haben lange nach einer hübschen Gegend gesucht. Ihre Straße ist eine gute Straße!“
„Darf man annehmen, dass Sie sich auch aus gewerblichen Zwecken hier einmieten?“, hakte sie weiter nach, während sie ihren Mantel enger um ihren Körper schlang. Der Himmel wurde immer düsterer. Vermutlich wurde es spätestens morgen zu schneien beginnen.
Der Mann sah sie verständnislos an. Tae, dem die Unterhaltung unangenehm zu sein schien, sprang ein.
„Wir bieten Essen an.“, sagte er. „Aus unserer Heimat.“
Frau Brüning wurde blass. „Ein China-Restaurant? Neben unserem Mietshaus?“ Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Es war doch eine allgemein bekannte Tatsache, dass solche Läden insgeheim oft getarnte Geldwäschereien waren, in denen die dubiosesten Gestalten ein und aus gingen.
„Oh nein, kein China-Restaurant!“, empörte sich ihr neuer Nachbar. „Sehe ich etwa aus wie ein Chinese?“
Frau Brüning erwartete, dass Tae wieder einsprang, doch dessen Aufmerksamkeit schien abgedriftet zu sein. Er fixierte gedankenverloren einen Punkt hinter ihr. „Und woher kommen Sie?“, fragte sie daher nach.
„Wir sind Koreaner!“, rief er stolz und legte den Arm um seinen Sohn, der aus seinen Gedanken erwachte und peinlich berührt zu seinem Vater aufsah.
Frau Brüning starrte ihn an. Ein Koreaner. Nicht nur das, eine ganze Koreaner-Familie!
„Ah, ich weiß, was Sie denken.“, murrte er. „Nicht Nordkorea! Wir sind aus Südkorea. Jeder denkt zuerst an Nordkorea!“ Er schien sich ernstlich zu ärgern, denn er wurde immer lauter und redete immer schneller. „Ich bin NICHT Kim Jong-Un!“
„Appa!“, zischte Tae und zupfte seinem Vater am Hemdsaum. „Nicht so laut!“
Frau Brüning verlor allmählich die Geduld. „Was für ein Restaurant eröffnen Sie denn nun?“, fragte sie, während sie aus ihrer Tasche ein besticktes Taschentuch zog und ihre kalte Nase betupfte.
Herr Lee schien an den Grenzen seiner Höflichkeit angekommen zu sein. Er schnappte sich die Stehlampe aus dem Laderaum, während er Frau Brüning fixierte, und sagte: „Mein Sohn und ich bieten bald das beste Essen der Stadt an!“
„Ihr Sohn?!“, rief Frau Brüning. „Sollte der denn nicht besser zu Schule gehen, damit aus ihm mal etwas wird?“
Bevor sein Vater seinem Wutausbruch freien Lauf lassen konnte, wurde Tae wieder aktiv und sagte, wenn auch ein wenig knauserig: „Ich bin zweiundzwanzig und arbeite bereits seit drei Jahren in dem Geschäft meines Vaters.“
Verblüfft musterte Frau Brüning den Jungen. Bei asiatischen Menschen war sie noch nie in der Lage gewesen, ihre sonst so zuverlässige Alterseinschätzung anzuwenden. Verärgert über ihren eigenen Fehler hob sie ihr Kinn an und fragte kühl: „Und was für Essen kann man bei Ihnen bestellen?“
Herr Lee schnaubte. „Das werden Sie sehen!“ Damit trug er die Lampe in das Haus hinein und verschwand aus Frau Brünings Sichtfeld, die mehr als brüskiert darüber war, von einem Nachbarn stehen gelassen zu werden.

Donnerstag, 31. August 2017

Kapitel 2: Y - Die verlorene Generation







Als ich erwachte, fühlte sich mein gesamter Körper versteift an. Das kleine, alte Sofa war bei weitem nicht so gemütlich, wie es mir in meiner Müdigkeit vorgegaukelt worden war. Mit noch geschlossenen Augen streckte ich mich und vernahm ein Knacksen in meinem Rücken. Flugzeug, Bus und Couch forderten ihren Tribut. Meine Position hatte ich im Schlaf nicht geändert, wie mir mein eingeschlafener Arm mitteilte. Seufzend zog ich ihn unter meinem Körper hervor und ließ ihn von der Lehne baumeln, das Blut allmählich in die Adern zurückfließen und stöhnte widerwillig über das ekelhafte Kribbeln. Ein wenig unwillig öffnete ich die Augen einen Spalt. Irgendwann würde ich aufstehen müssen, wenn ich heute Nacht nicht wachliegen wollte. Wobei dies so oder so geschehen würde.
Mit einem Mal stellte ich fest, dass es nicht mehr so harmonisch ruhig war wie bei meinem Einschlafen. Dumpf drang Musik von draußen durch die Wände herein. Verschlafen schaute ich aus dem Fenster. Draußen streunten noch immer vereinzelte Flocken umher. Der blaue Himmel war einem abendlichen, tiefen Lavendel gewichen. Erst jetzt, da die Lichter im Nachbarhaus angeschaltet worden waren, fiel mir auf, wie nahe es an den Wohnkomplex gebaut war, in dem Dana wohnte. Ich rieb mir die Augen und erhob mich schwerfällig, trottete zum Fenster, während ich auf den Lichtschalter haute, herzhaft gähnte und meine Arme um meinen kaltgelegenen Körper schlang. In diesem Moment erschien es mir schleierhaft, weshalb ich gedacht haben mochte, die Flucht in ein Skigebiet sei eine super Idee. Ich war in der Regel alles andere als wintertauglich. Aber darüber konnte ich mir Sorgen machen, wenn ich einen Schritt vor die Tür setzen musste.
Im Erdgeschoss des gegenüberliegenden Hauses war eine hübsche, glänzende Küchentheke zu erkennen, mit prall gefülltem Obstkorb direkt vor dem bodentiefen Fenster. Dass meine neuen Nachbarn das Geld etwas lockerer sitzen hatten, war unverkennbar. Die roten Äpfel glänzten wie in einem Bilderbuch. Kurz darauf waren gebräunte Männerhände zu erkennen, die eine Auflaufform auf die Theke hievten und überprüften, ob das Essen gar war. Unwillkürlich musste ich feststellen, wie leer sich mein Magen anfühlte. Betätigend gluckerte er leise, als ich eine Hand auf ihn legte. Hoffentlich brauchte Dana nicht mehr allzu lange… Sonst könnte ich ja nebenan einfach mal klingeln. Hey, ich habe gerade von nebenan aus in euer Haus gespannt. Ist der Auflauf fertig?
Meine Faulheit spielte mit dem Gedanken, sich einfach auf das große Bett fallen zu lassen und wieder einzuschlafen, bis es Hoffnung auf Abendessen gab. Die Zeit zu verschlafen war etwas, in dem ich unheimlich gut war. Jeder musste halt ein Talent haben. Was sollte es schon innerhalb dieses Zimmers zu entdecken geben? Und ohne Winterjacke in die klirrende Kälte zu treten war etwas, das mein vom Schlaf noch benebelter Verstand keineswegs attraktiv fand. Auf der weichen Matratze, unter kuscheligen Decken und auf flauschigen Kissen einfach wenig vor sich hinduseln… und träumen…
Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit wieder geschärft. Meine Augen huschten zu den schnellen Bewegungen, die plötzlich direkt vor mir stattfanden. Besser gesagt direkt vor meinem Fenster. Mann, wer war bloß der Architekt von dieser Katastrophe? Unmittelbar gegenüber meines Fensters, hinter einem weiteren Fenster im Nachbarhaus, vollzog ein junger Mann Klimmzüge an einer Reckstange. Es musste sich um ein Schlafzimmer handeln, immerhin war ein großes Bett mit silbergrauen Bezügen zu erkennen, direkt unter einer etwas futuristisch verschlungenen Deckenlampe aus Metall. Meine Augen huschten zurück zu dem Typen und ich legte den Kopf schief. Er musste etwa Mitte zwanzig sein. Einzelne dunkelblonde Haarsträhnen klebten ihm auf der feuchten Stirn. Sein Gesicht war vor Anstrengung gerötet und leicht verzerrt – wie eine lebendige Erinnerung daran, weshalb ich niemals Sport trieb. Gedankenversunken beobachtete ich sein akribisches Training. Bewundernswert, dass einige Leute es schafften, sich selbst zu solchen Leistungen zu motivieren. Alles, was innerhalb von geschlossenen Räumen stattfand, war nicht in der Lage, mich zu Höchstleistungen anzutreiben. Nun… fast alles. Aber da gab es auch immer eine Belohnung.
Ich wusste nicht, weshalb, aber irgendetwas an seiner Erscheinung wirkte… Ich suchte nach einem Wort, doch mir wollte keines einfallen. Ich hatte das Gefühl, dass er nicht nur wegen der Anstrengung so verbissen dreinschaute. Der ganze Körper hatte etwas von purer Aggression. Gut zu wissen, dass die Leute in Ouray einen Weg hatten, ihre Aggressionen in den Griff zu kriegen. Dem hier wollte ich in diesem Zustand lieber nicht auf der Straße begegnen. Hinter ihm war ein Stück einer eingeschalteten Stereoanlage sichtbar. Offenbar war dies der Ursprung der lauten Musik, die die Nachbarschaft beschallte. Der Titel wurde in einer dermaßen kleinen und flimmernden Schrift angezeigt, dass ich ihn nicht zu identifizieren vermochte. Ich beugte mich vor, kniff die Augen zusammen und drückte die Nase an der Fensterscheibe platt. Nicht zu entziffern. Immerhin hörte es sich nach Rockmusik an, Pluspunkte für ihn. Für die Musik und für seine Arme.
Über den letzten Gedanken musste ich ungewollt grinsen und schüttelte den Kopf, doch erneut wurde mein Gedankengang von einer Bewegung unterbrochen. Ich fokussierte meinen Blick wieder – und erstarrte. Während ich sein Zimmer begutachtet und mich in Träumereien und Psychoanalysen verloren hatte, hatte das Sportass sein Training unterbrochen und war an sein Fenster herangetreten. Schwer atmend und verwirrt starrte er mich an – und ich war nicht im Stande, anders zu reagieren, als überrumpelt zurückzustarren. Je länger ich das tat, desto ungläubiger wurde sein Blick. Wenn man bedachte, wie nah unsere Fenster aneinandergebaut waren, wirkte das ganze fast ein wenig bedrohlich – wie er dastand, stark verschwitzt, abgekämpft und eindeutig nicht sehr angetan von meinem Karriereeinstieg als Spanner. Ich machte großen Augen und setzte sich ein schuldbewusstes Gesicht auf. Dann versuchte ich es mit einem Lächeln. Sein Blick verfinsterte sich. Er schüttelte den Kopf und wedelte mit der Hand vor seiner Stirn herum. Sollte wohl heißen: Bist du total bescheuert? Die Chancen, dass ich tatsächlich bescheuert war, standen recht hoch. Okay, er fand mein Starren ganz und gar nicht witzig. Die süße, naive Nachbarin zu spielen brachte also überhaupt nichts. Vermutlich sah ich eh weniger süß und viel mehr verrückt aus –  noch immer ungeduscht und vermutlich mit einem fetten Sofakissenabdruck in meinem Gesicht. Ohne über meinen nächsten Impuls länger nachzudenken, knallte ich meine Handfläche gegen den Knopf, der sich neben dem Fensterrahmen befand.
Langsamer als es mir lieb war, senkte sich das Rollo vor mir gen Boden. Auf dem Weg dahin sah ich weiterhin in die vorwurfsvollen Augen meines Herrn Nachbarn. Sie starrten einen quälend langen Moment in meine, während ich vor Scham nicht fähig war, mich zu bewegen. Zuletzt hob er fassungslos die Augenbrauen, ganz so, als wollte er fragen: Echt jetzt?
Kaum war das Rollo am Boden und das Surren der Elektrik verstummt, schloss ich gedemütigt die Augen. Doch kurz darauf prustete ich los und hielt mir den Bauch vor Lachen. Natürlich musste mir in einem neuen Ort so etwas passieren. Nachdem ich mich beruhigt hatte, schüttelte ich den Kopf und bewegte mich endlich in Richtung Badezimmer. Während ich das Wasser aufdrehte, dachte ich wieder: hoffentlich würde ich dem Kerl niemals auf der Straße begegnen.



Frisch geduscht saßen Dana und ich auf dem großen Bett, beide mit Handtuch um den Kopf gewickelt. Es war bereits nach elf und mein Magen war überglücklich, dass Dana direkt Essen mit nach Hause gebracht hatte anstatt mich wie verabredet abzuholen.
„Du musst ja ziemlich lange arbeiten.“, bemerkte ich, während ich wahllos Unmengen Brot in mich stopfte. Dana seufzte und nagte an ihrem Laugenbrötchen.
„Und das jeden Tag, obwohl ich schon um neun morgens anfange!“ Sie schnippte unbeeindruckt einen Krümel von der Bettdecke, der mir vermutlich wie immer aus dem Mund gefallen war. Wenn ich mich zu wohl fühlte, aß ich wie ein Schwein – daran könnte man arbeiten.
„Lucas meinte, du darfst hauptsächlich den Dreck der Alten wegräumen.“, nuschelte ich mit vollem Mund. Dana sah mich überlegend an und ich wusste sofort, dass sie es falsch verstanden hatte. Ich schluckte runter. „Ich wollte damit nicht deinen Job niedermachen – ich bin ja auch noch nicht lange hier! Ich finde diese Frau einfach jetzt schon unsympathisch. Es klingt, als würde sie dich ausnutzen.“
„Naja… ganz so ist es nicht.“, sagte sie ausweichend, aber besänftigt. „Ich habe in der Zeit, in der ich hier bin, unheimlich viel gelernt. Allein was Marketing angeht! Das hab ich Zuhause nicht beigebracht bekommen! Und ich habe ja nichts dagegen, länger zu arbeiten, so lange… es sich lohnt.“
„Und, lohnt es sich?“, fragte ich und versuchte, meine Stimme neutral klingen zu lassen. Das hier gestaltete sich schwieriger, als es sonst nach einer längeren Trennung von Dana war. Ich sollte noch ein wenig aufpassen, was ich von mir gab.
„Meistens.“ Sie stieß Luft aus ihren Lungen. „Okay, nicht immer. Aber so ist das Leben.“
Ich lächelte. „Ach, vielleicht wird es ja besser! Manche Leute brauchen ja etwas, um aufzutauen. Wenn sie erstmal registriert, wie hart du arbeitest, wird es bestimmt einfacher.“
Dana antwortete nichts mehr, sah sich nur suchend im Zimmer um, als würde sie insgeheim überlegen, wie sie etwas formulieren sollte. Ich beobachtete sie einen Moment, bevor ich fragte: „Alles in Ordnung?“
Sie sah mich flüchtig an, nickte. „Klar!“, sagte sie. „Alles gut.“
„Spuck es aus.“, seufzte ich und legte das Essen weg.
„Alles gut! Wirklich.“, beteuerte sie, kratzte sich aber nervös am Arm. „Ich hatte gerade nur darüber nachgedacht, dass es für uns beide hier doch etwas eng wird auf Dauer. Ich bin auch viel arbeiten und hab nicht viel Zeit… klar, jetzt gerade ist es noch okay. Aber du wolltest ja eh eine kleine Rundreise durch die USA unternehmen oder? Hattest du nicht was von Work and Travel gesagt? Also, ich will dich natürlich nicht rauswerfen… “ Ein nervöses Lachen.
Ich schluckte, fühlte mich überrumpelt. „Ich wollte dir ja auch nicht auf Dauer auf den Keks gehen – “
„Tust du ja nicht!“
„Ich weiß, dass das hier nicht ewig geht und fange morgen auch an, zu gucken, was ich machen will. Klar. Aber ich bin ja gerade erst angekommen.“
„Jaa, ich weiß! Klar!“ Ihre Augen waren groß geworden und sie fuchtelte mit den Händen. „Ich weiß! Das war auch nur ein… Gedanke. Es ist halt sehr, sehr eng hier. Und du wolltest die Reise ja für dich unternehmen… “
Ich sah sie an, aber hörte dem Wortschwall gar nicht genau zu. Was war das? Sie verpackte zwar alles in nette Worte, aber es klang, als wollte sie mich so schnell wie möglich wieder loswerden.
„Ich bin nur hergekommen, weil du mir gesagt hast, dass du dich freuen würdest.“, sagte ich ruhig und unterbrach sie damit.
„Tu ich ja auch! Klar!“
„Daraufhin hab ich mir das Flugticket gekauft.“ Ich lächelte inzwischen, obwohl ich es nicht so meinte. „Sonst wäre ich niemals Hals über Kopf hier aufgetaucht. Ich bin nur hier, weil du gesagt hast ‚Mia, komm her!‘, also bin ich – hergekommen.“
„Ich weiß, das meinte ich ja auch so.“ Ich sah, wie sie die Augen verdrehte, obwohl ich es vermutlich nicht hatte sehen sollen. „Das war gerade wie gesagt nur ein Gedanke. Klar bleibst du erstmal hier! Ich habe nur über die Zukunft ein wenig nachgedacht.“
Mir fiel nicht viel mehr ein, was ich hätte erwidern können. Mit einem Mal fühlte ich mich ziemlich unwillkommen. „Wie gesagt fange ich morgen mit der Planung an, keine Sorge.“ Ich stand auf und zog meine Jogginghose aus, um in eine Jeans zu schlüpfen. Dana beobachtete mich unsicher, während ich die in meine abgewetzte Lederjacke schlüpfte und einen Schal um meinen Hals schlang. „Ich hab eben ganz schön viel geschlafen, bevor du gekommen bist. Ich geh noch schnell die Straße mal auf und ab, schau mir mal an, wo ich gelandet bin.“
„Okay… “, hörte ich leise von ihr. „Ist aber echt kalt draußen.“
„Bin ja nur kurz weg.“ Ich sah sie nicht einmal mehr an, als ich meine Schuhe anzog und zur Türe lief. Nicht, weil ich zickig war. Ich wusste die Situation einfach nicht einzuordnen und nach den letzten Tagen hatte ich auch keine Lust dazu. Ich war nicht weggelaufen, um hier neue Gründe zum Weglaufen zu sammeln.
„Du kannst dir gerne den Schlüssel mitnehmen.“ Dass sie genervt war, war nicht zu überhören.
Ich griff den Schlüssel von der Kommode. „Okay, bis später.“ Ich warf ihr ein knappes Lächeln zu und verschwand aus der Tür.





Nein, eine Lederjacke war definitiv nicht das richtige Kleidungsstück für Ouray im Dezember. Mitten in der Nacht. Ich seufzte. Kleine Rauchwölkchen entstanden augenblicklich vor meinem Gesicht und verschwanden genauso schnell wieder. Erst jetzt dachte ich an meine Haare, die, noch immer feucht, einen eisigen Helm um meinen Kopf zu bilden begannen. Vermutlich sollte ich einfach umdrehen, wieder in das winzige Zimmer von Dana marschieren, den Streit fürs erste vergessen und mich schlafen legen. Doch so langsam krochen die letzten Monate aus den verdrängten, ausradierten Orten hinauf, vor denen ich weggelaufen war – bis nach Amerika. Als ich meine Arme um meine Schultern schlang und einen Fuß vor den anderen setzte, bis ich wieder wie heute Nachmittag an der Straße stand, war mir längst klar, dass mich Danas Worte nicht derart verletzt hatten. Vielmehr waren sie der berühmte Tropfen, der das Fass langsam zum Überlaufen brachte und der in mir etwas auslöste, das mich bald um den Verstand brachte. Ich schloss die Augen, atmete tief durch und versuchte es wieder von mir zu schieben, dieses zerrende Gefühl, das mich hinab zog.
Schnell griff ich in meine Jackentasche und zog den gestohlenen Mp3-Player hervor. Kaum hatte ich ihn angeschaltet, hämmerte auch schon Failure von Breaking Benjamin in meinen Ohren. Perfekter Song. Das sanfte Gitarrenspiel beruhigte meine Nerven sofort. Ich öffnete die Augen wieder, blickte in den Himmel. Trotz meiner wirren Gedanken konnte ich nicht anders als zu bewundern, wie viele Sterne zu sehen waren. Eine kleine, abgeschiedene Stadt hatte ihre Vorteile. Verzweifelte Vocals, harte Drums.
Tired of feeling lost, tired of letting go…
Meine Augen wanderten weiter, über die wie ausgestorben wirkende Straße. Es schien, als hätte jeder außer mir einen Ort, an dem er sein musste. Wichtiger: an dem er sein durfte. War ich melodramatisch? Vermutlich. Aber wie oft musste ich mir noch sagen lassen, dass ich keinen Grund hatte, um mich schlecht zu fühlen? Und woher, verdammt nochmal, wollte das irgendjemand außer mir wissen? Volume up.
Tired of wasting breath, tired of nothing left…
Aber vielleicht war das alles tatsächlich nichts als meckern auf hohem Niveau. Ich stand immerhin auf einem vollkommen anderen Kontinent, hatte mich in ein Flugzeug und in einen Bus gesetzt, einfach so. Wer konnte sich schon so einen Luxus leisten? Und erst den Luxus, einfach alles wegzuschmeißen und mit Null dazustehen – freiwillig. Wie das auf alle anderen Menschen in meinem Bekanntenkreis wirken musste, war mir bewusst. Was hinter meinem Rücken geredet werden würde, sobald alles die Runde machte. Ein Grund mehr, einfach nicht mehr zurückzukehren.
Failure…
Plötzlich griff jemand nach mir. Der Schock ließ mein Herz stillstehen. Mein Magen zog sich zusammen, ich fuhr panisch herum und blickte – in warme braune Augen.
Lucas.
Während mein Herz nun wie wild gegen meine Brust hämmerte, erklang noch immer auf höchster Lautstärke der Song in meinen Ohren. Schnell zog ich die Stöpsel heraus und atmete erstmal tief durch.
„Gute Idee, in einem fremden Ort nachts allein mitten auf der Straße zu stehen und rein gar nichts hören zu können.“ Das waren Lucas‘ begrüßende Worte.
Verblüfft sah ich mich um. Ich hatte mich in meinen Gedanken tatsächlich auf die Fahrbahn bewegt.
„Nun… “ Meine Stimme klang etwas kratzig, also räusperte ich mich. „Gut, dass ich noch lebe, hm? So viel, wie hier nachts los ist.“
Er musterte mich forschend. Ich bemühte mich, einen lockeren Eindruck zu machen.
„Und was machst du hier… mit… nassen Haaren?“
Ja. Das war wohl ein schönes Bild. Ich musste ein wenig darüber schmunzeln. „Lebenskrise.“ Immerhin war das ehrlich, auch wenn er es als Scherz auffassen würde. „Und du? Arbeitest weiter an der Karriere als Stalker?“
„Selten jemanden getroffen, der so frech ist wie du!“ Er kniff gespielt böse die Augen zusammen, grinste aber glücklicherweise. Ein Segen, jemanden zu treffen, der meinen Humor verstand. „Ich habe tatsächlich einfach nur den Müll herausgebracht und dabei eine verwirrte, seltsame Frau entdeckt.“
Ich lachte. „Touché.“ Gleichzeitig zog ich meinen Schal höher, über mein Kinn und zog den Kopf ein.
Lucas musterte mich erneut, dann warf er einen Blick auf das Wohnhaus, in dem Dana lebte. „Hör mal, was wirklich los ist, geht mich nichts an. Aber es ist ziemlich kalt hier draußen. Wie wäre es mit einem warmen Kakao? Oder einem Tee? … Auf die Gefahr hin, dass ich mich mal wieder aufdränge.“
Nun war es an mir, ihn zu mustern. Es war so ungewohnt, dass sich ständig jemand um mein Wohlbefinden bemühte. Ich war mir auch noch immer nicht sicher, inwiefern ich ihm vertrauen sollte. Erste Eindrücke können auch täuschen. Aber wenn man die Situation nüchtern betrachtete, stand ich viel zu knapp angezogen und mit nassen Haaren mitten auf einer fremden Straße in einer fremden Stadt und die einzige Person, die ich kannte, war über meine Anwesenheit nicht so begeistert wie ich angenommen hatte. Vermutlich hielt er mich für einen Pflegefall. Also…
„Gibt’s den Kakao auch mit Schuss?“




„Du bist einfach so in ein Flugzeug gestiegen? Dass du dich ohne Plan auf den weiten Weg gemacht hast… “ Lucas schüttelte mit dem Kopf, während er einen Topf mit Milch auf die heiße Herdplatte stellte.
„Yolo.“, murmelte ich halbernst, während ich mich beeindruckt umsah. Ich befand mich in der Küche, die ich heute Nachmittag noch durch das Fenster beobachtet hatte. Alles war lächerlich perfekt aufeinander abgestimmt – die weißen Schränke, der schwarze Fliesenboden und graue Akzente wie Bilderrahmen oder Vasen aus Stein. Alles war sehr offen gebaut, der Wohnbereich grenzte direkt an die Küche. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gedacht, mich in einem Musterhaus zu befinden. Oder in einer Folge von Fixer Upper. Dann war es wohl Lucas gewesen, dessen Hände einen schönen Auflauf aus dem Ofen gezogen und mir Appetit gemacht hatten. Während ich zu einer Kommode schlenderte, auf der lauter Bilderrahmen standen, traf es mich plötzlich.
„Wohnst du hier alleine?“ Ich drehte mich zu ihm um und wartete, angespannt.
Lucas sah verblüfft auf, ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen. Vermutlich dachte er, dass ich herauszufinden versuchte, ob er eine Freundin hatte. Meine Furcht hatte er als schlechten Flirtversuch missverstanden. „Nein. Das Haus gehört meinem Vater. Über die Wintermonate kommen wir gern hierher – die einzige Zeit im Jahr, in der sich die ganze Familie sieht. Für mich alleine wäre das viel zu viel Platz.“ Er lächelte und ließ seinen Blick nicht von mir. Ich wandte mich schnell ab. Auf so verbindliche Avancen wollte ich wirklich nicht schon an Tag eins eingehen.
„Also befindet sich gerade eine ganze Familie hier unter dem Dach? Und wir machen hier einen Mitternachtssnack?“ Ich begutachtete die Fotografien. Lucas mit einem älteren Mann – wohl seinem Vater – in einem Garten… eine wirklich hübsche blonde Frau, die an einer Fassade arbeitete… und – bingo.
„Nein, nein. Meine Eltern haben sich ein paar Tage Zeit für sich genommen, machen eine kleine Rundreise durch Colorado. Morgen kommen sie wieder. Ups.“ Er zog schnell die Milch vom Herd, die mit einem Mal nach oben kochte. Gerade noch rechtzeitig. „Naja, mein Bruder ist noch hier. Aber der kommt oft erst in der Nacht zurück und schläft bis mittags – da arbeite ich schon. Und wenn ich abends heimkomme, ist er schon wieder fort. Also mehr eine Art Hausgeist.“
Sein Bruder also. Lucas rührte Kakao unter die Milch und füllte sie geschickt in zwei Tassen.
„Versteht ihr zwei euch gut?“, fragte ich neugierig.
Plötzlich zitterte seine Hand, nur kurz, aber es reichte, um eine riesen Sauerei auf der Küchentheke anzurichten. Er stöhnte. „War ja klar.“ Nachdem die zweite Tasse auch befüllt war, stellte er den Topf zurück auf den Herd und sah sich um. „Ich glaube, die frischen Handtücher sind ausgegangen. Ich hole mal schnell eines aus dem Bad. Bin sofort wieder da.“
„Klar.“, murmelte ich und sah ihm hinterher. War das Zufall gewesen oder die falsche Frage? Jede seiner Bewegungen hatte so geschickt gewirkt. Perfekt wie dieses Haus auf den ersten Blick. Aber ich wusste nur zu gut, dass die wenigsten Familien perfekt waren.
Ich drehte mich wieder zu der Kommode um und nahm kurzerhand das Bild von Lucas‘ Bruder in die Hand. Eindeutig, das war dieser Typ, den ich unfreiwillig bespannt hatte, mit dem Unterschied, dass er auf dem Foto kein hochrotes Gesicht hatte – und die aggressiv-ungläubige Körperhaltung fehlte auch. Wobei… so wirklich freundlich wirkte er dennoch nicht. Auf dem Foto war er offensichtlich ein paar Jahre jünger. Ein flauschiger, braun-weißer Welpe saß auf seinem Schoß und leckte ihm über die Hand. Welcher Mensch sieht auf einem Foto mit einem Welpen unfreundlich aus? Selbst Mafiabosse würden wie die sympathischsten Lebewesen wirken, sobald ein Tierbaby auf ihnen herumhüpft.
Urplötzlich hörte ich ein seltsames Geräusch hinter mir. Als ich mich herumdrehte, war niemand zu sehen. Das Geräusch war leise und irgendwie… feucht. Ich stellte das Bild wieder zurück und schlich leise um die Theke herum. Dort, wo die verschüttete Milch den Schrank heruntergelaufen und auf den Boden getropft war, befand sich eben besagtes Fellknäuel, nur um Welten größer. Das Bild war also tatsächlich schon älter.
„Na du. Dann hat die Milch ja doch noch einen Zweck.“ Ich musste lächeln.
Der Hund hingegen hielt mit einem Mal inne, den Kopf tief über die Milchpfütze gesenkt, starrte mich an und finge leise an zu knurren.
„Na hör mal. Ich knie mich bestimmt nicht neben dich und leck dir die Milch weg.“, meinte ich unbeeindruckt und machte mich ein wenig größer, ließ ihn nicht aus den Augen. Das Knurren war verstummt, aber er sah mich noch immer unsicher an, ließ seinen Blick zwischendurch wegflirren. „Alles gut.“, sagte ich sanft. „Ist fein.“ Einen Moment zögerte er noch. Dann leckte er wieder die Milch auf, wenn auch langsamer als vorher. Ich setzte mich im Schneidersitz mitten auf die schwarzen Fliesen und beobachtete ihn. Hund müsste man sein.
Als der Hund seine Mahlzeit beendet hatte, leckte er sich ein paar Mal über die Lippen und tapste zu mir herüber, kletterte über meine Beine und ließ sich schwerfällig in meinem Schneidersitz nieder als wäre er kein anderes Körbchen gewohnt.
„Freut mich auch, dich kennenzulernen.“, murmelte ich und streichelte vorsichtig seine Flanke. Er drehte blitzschnell den Kopf, schnupperte an meiner Hand, bevor er sich endgültig zum Schlafen niederließ und den Kopf au fmeinem Knie bettete. „Das kann unmöglich gemütlich sein. Aber gut. Du musst es ja wissen.“
Schritte näherten sich. Lucas betrat die Küche, sah sich verwirrt um. Nach kurzer Zeit entdeckte er uns auf dem Boden. Der Hund schenkte ihm einen desinteressierten Blick, bevor er wieder die Augen schloss. Lucas hingegen bewegte sich überhaupt nicht.
„Hi.“, meinte ich leichthin und grinste.
„Faszinierend.“, murmelte er. Ich stellte ihn mir unmittelbar mit Spitzohren vor. „Bonnie kann Fremde eigentlich nicht leiden. Wie hast du das geschafft?“
Die Antwort blieb ich ihm schuldig, weil mir nicht einfiel, was ich hätte sagen können. „Bonnie? Eine Hündin?“
„Ja, genau.“ Er riss sich von dem Anblick los und wischte den Schrank trocken und machte sich anschließend wieder an die Zubereitung unseres Kakaos. Ich beobachtete ihn dabei und kraulte Bonnie dabei im Nacken. Sie musste in den Top fünf der flauschigsten Hunde weltweit sein. So ein weiches, makelloses Fell hatte ich selten bei einem Hund entdeckt.
„Darf ich die behalten?“
Lucas lachte. „Mein Bruder würde dich umbringen. Bonnie gehört ihm.“
„Will er vermutlich eh schon.“, murmelte ich.
„Was?“
„Ach, nichts.“
Kurz darauf hatte ich einen dampfenden Becher Kakao mit Rum in der Hand, an dem ich dankbar nippte. Lucas setzte sich neben mich auf die Fliesen.
„So. Deine Haare sind trocken. Du hast was Warmes zu trinken. Willst du mir jetzt verraten, was du da draußen gemacht hast?“
Er läutete also die Therapiestunde ein. Darauf hatte ich nun wirklich keine Lust. „Ach, eine kleine Auseinandersetzung mit Dana, ich musste mir bloß Luft machen.“
Lucas nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Tasse. „Worum ging es?“
Ich lehnte mich gegen die Schränke hinter mir. „Mädchenkram.“, war alles, was ich sagte, und genoss wieder den Schokoladen-Rum-Geschmack. Meine Tasse war schon zur Hälfte leer.
„Vielleicht kann ich helfen?“ Er ließ nicht locker.
„Lass mal. Was machst du eigentlich beruflich?“
Er blinzelte sichtbar irritiert von dem schnellen Themenwechsel. „Ich… ich verkaufe Versicherungen.“
„Oh. Machst du das gerne?“
Er schwieg einen Moment, verdutzt. „Ich kann nicht sagen, dass ich es nicht gerne mache. Ich habe gerne mit Menschen zu tun.“
„Hm.“ Ich sah wieder auf Bonnie. Warum hatte ich ständig das Gefühl, dass ich die einzige war, der bei sowas stets der Sinn ausging? Irgendwas in meinem Kopf war kaputt. Ich kippte den Rest meines Kakaos hinunter.
„Du bist wie Shane. Der will auch ständig alles mit Schuss und trinkt es dann in einem Zug aus.“
Ich hob den Kopf und sah, dass Lucas mich ein wenig zu aufmerksam musterte. „Naja. Es waren mindestens drei oder vier Züge.“, sagte ich verlegen. „Wer ist Shane?“
„Mein Bruder.“
„Ah.“
Stille. Uns schienen die Gesprächsthemen ausgegangen zu sein. Dabei hatte sich der Abstecher in sein Haus so gut angelassen. Ob er mich tatsächlich nur aus Mitleid mit hineingenommen hatte und nun darauf wartete, dass ich meine Tasse abgab, mich artig bedankte und wieder verschwand?
Ich holte tief Luft und wollte mich gerade verabschieden, als er doch wieder zu reden begann.
„Ich wollte dich nicht als Alkoholiker abstempeln.“
Zu meiner Überraschung wirkte er ziemlich verlegen. Er drehte die Tasse in seinen Händen.
„Du hast mich bloß an ihn erinnert. Er und ich… kommen nicht so gut miteinander aus.“ Er stieß Luft aus seinen Lungen und sah mit einem Mal miserabel aus.
„Warum nicht?“ Ich beobachtete ihn aufmerksam, während sein Zeigefinger einen Tropfen Kakao auffing, der sich seinen Weg am Tassenrand nach unten zu bahnen versuchte.
„Ich weiß es nicht. Ich versuche alles, aber es ist zu deutlich, dass er gerne weit weg von mir wäre.“
Mir fiel nicht ein, was ich antworten sollte. Dafür kannte ich seine Familie zu wenig. „Geschwisterliebe.“, meinte ich daher bloß. Aber anscheinend hatte ich ein Fass geöffnet.
„Nun ja… wir sind nur Halbbrüder. Mein Vater hat Shanes Mutter geheiratet. Das hat ihm wohl nicht gepasst. Mein Vater und ich sind für ihn auch nach drei Jahren noch unwillkommen.“
„Ist er nicht ein wenig zu alt zum rebellieren?“, fragte ich stirnrunzelnd. Lucas lachte.
„Vielleicht. Aber wenn er so gar nicht bei uns sein möchte, kann ich verstehen, dass ihn das alles nervt. Hier zu sein.“
„Und… warum zieht er nicht aus? Er muss doch Mitte zwanzig sein.“
Verblüfft betrachtete mich Lucas. „Woher… ?“
Ups. Richtig. Er wusste ja nicht, dass ich seinen halbnackten Bruder bereits kennengelernt hatte. Zumindest quasi.
„Ehm… das Bild. Der Hund war darauf noch ein Welpe und er sah aus wie um die zwanzig. Hunde wachsen natürlich schnell und deshalb war es dumm, das als Zeitfaktor einzuberechnen.“ Ich redete ein wenig zu schnell, aber Lucas schien es zu schlucken.
„Ach, das Bild. Nicht schlecht geschätzt. Er ist sechsundzwanzig.“
Ich atmete erleichtert aus und lächelte vor mich hin.
„Aber seine Mutter will es so. Sie sagt, er soll wenigstens den Winter bei uns verbringen. Er hat auch keinen Job, der ihn an einem anderen Ort festnageln würde, also… “
Und schon herrschte wieder Stille. Toll. Das einzige Gesprächsthema, das uns einfiel, war sein Bruder gewesen. Aber immerhin wusste ich nun, dass keiner Verdacht schöpfen würde, wenn er sich mir gegenüber schlecht gelaunt verhielte. Sofern ich ihn mal treffen würde.
„Ich glaube, ich gehe mal wieder rüber. Der erste Tag ist wirklich zu früh, um so eine Spannung zwischen Freunden zu ertragen.“
Lucas nickte und nahm meine Tasse entgegen. Ich sah auf Bonnie herab, die noch immer demonstrativ auf mir pennte.
„Hundi.“, sagte ich sanft und stupste sie an. Ihr Kopf schnellte herum und erneut ließ sie ein Knurren hören. „Mädchen!“, knurrte ich zurück. Mit einem Mal verstummte sie und erhob sich von mir. Vor mir blieb sie stehen und sah mich mit großen Augen an, bevor sie sich streckte und sich einfach wieder auf den Boden sinken ließ. „So ist gut.“ Ich streichelte ihr noch einmal über den Kopf und stand dann auf.
„Hast du selbst einen Hund?“
Ich drehte mich zu Lucas, der mich fasziniert beobachtete. „Oh. Nein.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Aber wenn mich jemand anknurrt – knurre ich eben zurück.“
Er lachte laut, bevor er einen Blick auf die Uhr warf. „Schon halb zwei… ich muss morgen um sechs aufstehen.“, stöhnte er.
„Aber das machst du natürlich gerne, weil du gerne auf Menschen triffst!“, erinnerte ich ihn grinsend. Er grinste zurück und schüttelte den Kopf.
„Gibt es jemanden, der schlagfertiger ist als –“ Er unterbrach sich selbst, als die Haustür geöffnet und lautstark zurück ins Schloss geschlagen wurde. Sofort erhob Bonnie sich hellwach und rannte in den Flur. „Der ist aber heute früh“, murmelte Lucas und warf noch einen prüfenden Blick auf die Uhr, dann auf seine Armbanduhr.
„Hey, Shane!“
Oh-oh.
Als sich Fußschritte der Küche näherten, machte ich einen großen Schritt auf die noch klebrige Theke zu, schnappte mir das Handtuch und gab vor, sie richtig reinigen zu wollen. Ich war ja so ein höflicher Gast.
„So früh schon zurück?“
Ich hörte keine Antwort. Es war aber auch eine ziemlich überflüssige Frage gewesen.
„Willst du Kakao? Das ist unsere neue Nachbarin, Mia.“
Okay. Nun würde ich mich wohl oder übel umdrehen müssen. Ich atmete tief durch, setzte mich laaangsam in Bewegung und drehte mich um.
Es war nicht abzustreiten. Vor mir stand der abgekämpfte Typ. Mit dem Unterschied, dass er jetzt gar nicht abgekämpft aussah, sondern ziemlich gestylt. Die hellblauen Augen waren allerdings etwas nebelig.
„Hi. Shane.“ Eine unheimlich dümmliche Stimmlage drang aus meinem Mund. Passend dazu setzte ich ein vorsichtiges Lächeln auf. Seine Augen verengten sich. Bitte nicht.
„Kennen wir uns?“, fragte er in tieferem Ton als Lucas imstande war. Sein Verstand versuchte ganz offensichtlich zu arbeiten, aber der Alkohol hielt ihn davon ab.
„Sie ist heute erst angekommen, aus Deutschland. Das wäre ein ziemliches Wunder.“, kam Lucas mir zur Hilfe, ohne es zu ahnen.
Plötzlich desinteressiert wandte Shane sich ab. „Wie auch immer. Nacht.“ Er zog noch seine Jacke aus und ließ sie einfach hinter sich fallen, während er wieder im Flur verschwand. Ein paar stampfende Schritte später knallte irgendwo im Haus eine Zimmertür.
Lucas seufzte. „Das tut mir leid. Wirklich.“
Wenn der wüsste, wie erleichtert ich gerade war.



Montag, 28. August 2017

Kapitel 1: Y - Die verlorene Generation

Inhalt 

„Natürlich wurde ich… halb wahnsinnig vor – vor Druck. Von meinen Eltern, von den Prüfungen, von dem Gefühl, einfach nicht mehr die gleiche Luft zu atmen wie alle anderen um mich herum. Es gab nur noch die Aufgabe, alles so perfekt wie möglich zu machen, so tadellos. Das war so… “ Ich suchte nach dem richtigen Wort, stieß Luft aus den Lungen, die mir in der Brust wehtat. „… leblos.“ Shane sagte gar nichts. Er hörte mir einfach zu. Wieder einmal. Manchmal fragte ich mich, ob ich endgültig durchgedreht war und ihn mir bloß einbildete. Er war wie ein Therapeut. Seine Nähe war meine Therapie.

Als Mia es Zuhause nicht mehr aushält, kauft sie kurzerhand ein Flugticket und landet in Ouray, Colorado. Was ihr endlich Frieden verschaffen sollte, stellt sich als Zerreißprobe heraus: statt allein durchs Land zu reisen, findet sie sich in einer Familie wieder, die ihre ganz eigenen Probleme hat.

Notizen

Softe Auseinandersetzung mit dem Thema Depression, Verdrängung. Beleuchtung der heutigen Generation, die oft die "verlorene" Generation genannt wird.
Tags: Freundschaft, Humor, Romantik, Tragik

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Als ich Ouray das erste Mal sah, lief gerade Back to the River auf dem Mp3-Player, den ich meiner Schwester geklaut hatte. Nach vielen Stunden auf Reise wusste ich noch immer nicht, was mich hier erwartete – aber nach einer Stadt, in der Pretty Reckless auftreten würden, sahen die vielen kleinen Cafés und Boutiquen eindeutig nicht aus. Ob ich mir einen Gefallen damit getan hatte? Eigentlich spielte das keine Rolle. Es gab in meiner Vorstellung keinen Ort, der ferner von alldem war, vor dem ich davonlief. Und genau das machte das kleine Städtchen, das einem Heimatfilm entsprungen schien, geradezu perfekt.
Ich zog die Mütze tief ins Gesicht, als der Bus sich einen Weg durch die scheinbar in Eis erstarrte Stadt bahnte. Meine Tasche hielt ich seit Stunden festumklammert auf meinem Schoß. Beinahe hätte ich sie nicht mit in den Bus nehmen dürfen, denn dem Fahrer gefiel es gar nicht, eine so große Tasche nicht im Bauch des Fahrzeuges zu wissen. Letzten Endes hatte ich gewonnen, vermutlich, weil er sich keine Verspätungen aufgrund von endlosen Diskussionen leisten konnte oder genug hatte von unliebsamen Fahrgästen. Ich konnte seine Arbeitsmüdigkeit nur zu gut nachvollziehen. Wahrscheinlich fuhr er jeden Tag die gleiche Strecke durch das westliche Colorado, an den immer gleichen Gebäuden vorbei, um die gleiche Art Fahrgäste zu transportieren, die mit ihm über die Klimaanlage, unbequeme Sitze oder zu großes Handgepäck stritten. Der ewig gleiche Trott. Bei dem Gedanken daran wurde mir schwindelig.
„Ouray.“, brummte der untersetzte Mann mit Halbglatze in das Mikrofon.
Ich stupste das blonde Mädchen neben mir an, das glücklicherweise noch keinen Ton mit mir reden wollte. „Lässt du mich raus?“
„Ich muss auch hier raus.“, erwiderte sie lustlos und streckte ihre Glieder, bevor sie mich noch einmal musterte. „Du kommst doch nicht von hier, oder?“
Der Bus hielt mit einem lauten Quietschen. Ungeduldig verstärkte sich der Griff um meine Tasche. „Nein.“
Endlich erhob sie sich, blieb jedoch in der Sitzreihe stehen. „Woher bist du denn?“
„Deutschland.“, sagte ich knapp. „Kann ich jetzt endlich aussteigen?“
„Ist ja gut, ist ja gut.“, murmelte sie. „Nur keine Eile. In Ouray sitzt man lange genug fest.“ Sie schwang endlich ihren zugegebenermaßen hübschen Hintern aus dem Weg. Meiner fühlte sich nach der ewigen Reise plattgedrückt und schlaff an. Glücklich, nicht mehr sitzen zu müssen, kletterte ich ihr hinterher aus dem Bus, nicht ohne einen missbilligenden Seitenblick vom Fahrer zu kassieren, als ich die schwere Tasche über die Schulter warf.
Eiskalte, frische Luft strömte in meine Lungen, während ich mich umsah. Nach wenigen Schritten, die mich von dem Greyhound Bus service entfernten, waren meine Socken bereits feucht und mein Körper zitterte unter dünnen Jeans und Hoodie. Mit der freien Hand zog ich mir den Schal übers Kinn. Nichtsdestotrotz bestaunte ich den malerischen Anblick, der sich mir bot. Mehrere viktorianische Gebäude ragten in der Wintersonne in die Höhe, allesamt unter einigen Zentimetern pudrigem Schnee versteckt. Die kleine Stadt lag in einem Tal, umrahmt von bilderbuchartigen Bergen, deren weiße Spitzen sich vor dem blauen Himmel absetzten. Ganz langsam wurde mir bewusst, warum Ouray auch die Schweiz Amerikas genannt wurde.
„Kann man dir helfen?“
Ich schrak aus meinen Gedanken auf – und starrte auf eine Jacke. Während ich gegen das Sonnenlicht anblinzelte, hob ich den Blick und sah einen hochgewachsenen jungen Mann vor mir stehen. Mit freundlichen braunen Augen betrachtete er mich und hatte ein so herzliches, offenes Gesicht, dass ich nicht anders konnte als zu lächeln.
„Oh. Ich stehe wohl etwas im Weg hier, hm?“, bemerkte ich lachend und sah mich auf dem Gehweg um. Er lachte ebenfalls.
„Du darfst gerne so lange im Weg stehen, wie du möchtest! Ich dachte mir bloß, dass du etwas verloren aussiehst.“
„Da ist was dran.“, seufzte ich und suchte die Umgebung ab. Wo steckte sie bloß?
„Kann man dir helfen?“, wiederholte er, als ich nicht weitersprach.
„Hm… “ Ich lagerte die Tasche unbeholfen um. „Meine Freundin wollte mich abholen. Ich denke, sie wird gleich auftauchen.“ Einem Fremden sollte ich vielleicht nicht zu viel erzählen. „Hoffe ich.“, fügte ich grinsend hinzu, um locker zu wirken und ihn nicht auf die Idee zu bringen, dass ich in Not sei. Zu meiner Enttäuschung ließ er einfach nicht locker.
„Wer ist es denn? Hier kennt man eigentlich jeden. Deshalb fällst du auch so auf.“ Unter dunklen, langen Wimpern musterte er mich intensiv. Normalerweise würde ich mich spätestens jetzt unwohl fühlen, aber etwas an seiner Art ließ mich nicht eine Sekunde daran zweifeln, dass er der netteste Kerl der Welt war. Andererseits… fingen so ziemlich viele Kriminal- und Horrorgeschichten an.
„Dana Maurer.“, erwiderte ich, unsicher. Ich war es nicht gewohnt, dass Fremde einfach anfingen, sich mit mir zu unterhalten. Geschweige denn, dass sich alle Stadtbewohner untereinander kannten, da ich aus einer Großstadt kam. Ich liebte meine Anonymität.
„Ach, die hübsche Dana aus Deutschland!“, rief er. „Ich hätte es eigentlich wissen müssen, dein Akzent verrät dich.“
Ich zuckte mit den Schultern und sah mich wieder um. Der Bus war inzwischen fort und somit auch jegliche Möglichkeit, wieder umzukehren. Umso besser. Das nahm mir eine Entscheidung ab.
„Zufällig arbeitet Dana bei unserer Nachbarin, Mrs Weaver. Ich kann dich hinbringen, wenn du magst.“, bot er an und lächelte mich noch immer auf eine Art und Weise an, die mich dazu brachte, mich vollkommen wohlzufühlen, während zeitgleich all meine Alarmglocken losgingen.
„Ehm… danke. Aber… nein, danke.“ Ich zwang mir ein unverbindliches Lächeln ins Gesicht. „Sie hat versprochen, mich hier abzuholen. Am Ende verfehlen wir uns.“
Ich sah, dass er sich abgewiesen fühlte. Dennoch trug er es mit Fassung und lächelte weiterhin freundlich.
„Okay, ich sag dir was,“, fuhr er fort. „du rufst deine Freundin an und hörst nach, ob sie auf dem Weg ist. Ich kann dich wirklich nicht einfach in der Kälte stehen lassen!“ Er lachte, als er das selbstverständlich, obwohl es das für mich überhaupt nicht war. Er kannte mich überhaupt nicht. Mich würde es nicht jucken, ihn irgendwo in der Kälte stehen zu lassen. Heckte er etwas aus? Oder war er tatsächlich einfach bloß nett?
„Ich habe kein Handy.“, erwiderte ich. Kurz darauf hielt er mir seines unter die Nase. Verblüfft hob ich die Augenbrauen. Ohne das Handy weiter zu beachten, schaute ich ihm genau in die Augen und suchte nach etwas.
„Was?“, fragte er leicht verwirrt. Dennoch war von der Wärme nichts verschwunden.
„Seid ihr hier alle so anhänglich?“, fragte ich spaßeshalber, während ich verlegen den Blick senkte und nach dem Handy griff. Er lachte herzhaft.
„Wenn ich dir auf die Nerven gehe, sag nur Bescheid!“
Das tat er ganz und gar nicht. Er war lediglich eine… Abnormalität in einer Welt wie dieser. Ja, das drückte ziemlich gut das aus, was mir gerade im Kopf vorging. Einerseits hätte mein Start in dieser Stadt gar nicht herzlicher sein können. Andererseits befürchtete ein Teil von mir immer noch, in tausend Stücke gehackt und in schwarze Mülltüten gestopft zu werden. Während ich Danas Nummer wählte, schmunzelte ich über meine eigene Fantasie. Aber man wusste ja nie.
Nachdem ich Danas Nummer eingetippt hatte, ertönte ein Freizeichen. Ungeduldig, da ich das Handy des Fremden nicht ewig in Anspruch nehmen wollte, wartete ich. Endlich knackte die Leitung.
„Hallo? Lucas?“, erklang das besorgte Stimme der Person, die zu meiner einzigen Anlaufstelle geworden war.
„Hm, fast.“, erwiderte ich, nun auf Deutsch. „Aber dann nehme ich an, dass ich endlich den Namen von dem Typen kenne, der mich mit Willkommenskultur überschüttet.“
„Mia!“, rief sie perplex. „Was zum – warum hast du Lucas‘ Handy?“
„Die Reise war etwas holprig, aber nach knapp zwei Tagen bin ich endlich angekommen. Und wie geht’s dir so?“
Ich hörte, wie sie tief durchatmete. „Tut mir wirklich leid, ich wollte ja rechtzeitig da sein, aber naja, hier ist so viel los und diese Reisebusse sind doch sonst nicht so pünktlich. Delta Airlines ist eigentlich auch nicht immer zuverlässig, ich dachte, ein paar Minuten hätte ich noch. Ich musste Mrs Weaver Essen machen, aber sie mochte es nicht, also musste ich –“
„Alles gut!“, unterbrach ich ihren Wortschwall und musste trotz der Kälte grinsen. Ihr typisches Geblubbere hatte ich vermisst. „Kann ja nicht jeder von uns mittellos sein. Sag mir einfach, wo ich hinkommen soll oder wann du hier sein kannst, dann vertreibe ich mir so lange die Zeit.“
„Ob du da so viel findest.“, murmelte sie kaum hörbar. „Ich schicke einfach meine Adresse an Lucas… warte, warum ist er denn jetzt bei dir?“
Ich sah wieder in die geduldig wartenden, sehr braunen Augen mir gegenüber. Ein angenehmer Schauer lief über meinen Rücken. „Das weiß nur Gott.“
„Okay… können wir ja auch später drüber reden.“ Sie klang nicht gerade erfreut. „Ich muss leider auflegen, tut mir leid. Aber ich bin froh, dass du heil angekommen bist!“
„Danke.“, sagte ich lächelnd. „Ich freue mich auf dich. Bis später.“
„Ich freue mich auch. Bis dann!“
Damit legte sie auf. Nun gut, ich wollte eh einfach nur in ihre Wohnung und mich auf die versprochene Couch werfen. Die vergangenen achtundvierzig Stunden machten mir ganz schön zu schaffen. Meine Augen brannten so sehr, dass sie vermutlich kifferrot waren – was das wohl für einen Eindruck auf Lucas machte? Ich hatte zudem das Gefühl, dass meine Kleidung tierisch muffte. Seufzend gab ich Lucas das Handy zurück.
„Vielen Dank. Sie schickt dir gleich eine Adresse, wäre toll, wenn du wartest, bis ich sie mir auf einen Zettel schreiben kann.“ Vorsorglich kramte ich bereits in der Vordertasche meines Rucksacks, in der immer Stifte und Papier auf mich warteten.
Lucas bedachte mich mit einem seltsamen Blick. „Du kennst dich doch gar nicht hier aus.“
„Das schaffe ich schon.“ Ich schenkte ihm ein weiteres unverbindliches Lächeln. „Ich bin ja ein großes Mädchen.“
Er schmunzelte kopfschüttelnd. „Das glaube ich dir aufs Wort.“ Seine Augen musterten mich zum ersten Mal genauer und ich begann, ein wenig nervös zu werden, während ich darüber grübelte, wie er das wohl meinte.
In diesem Moment piepte sein Handy. Zum Glück hatte Dana sich beeilt – wer wusste, wo diese Situation noch hinführte. Lucas scrollte die Nachricht hinunter und runzelte die Stirn.
„Was? Stimmt was nicht?“, fragte ich unsicher. Seine Augen richteten sich wieder auf mich, unschlüssig.
„Hör mal, ich weiß, du hast genug davon,“, sagte er auf einmal mit ernster Miene. Seine Stimme war einen Ton leiser und dunkler geworden. Ohne, dass ich es wollte, war ich ein wenig verzaubert von seiner Ausstrahlung. „aber das ist wirklich direkt neben mir und ich bin eh auf dem Weg nach Hause. Ich kann dich wirklich mitnehmen! Und auch wenn ich mich dir so aufdränge, ich bin kein Verrückter.“ Das Lächeln schlich sich zurück um seine Mundwinkel. „Zumindest hat mir das noch niemand gesagt!“
Einen Augenblick lang sahen wir uns einfach nur an. Das vertrauenswürdige Himmelblau funkelte mir geduldig entgegen, während die Gedanken in meinem Kopf allmählich zum Erliegen kamen. Immerhin hatte ich diese Reise unternommen, um mich auf mehr einzulassen, um etwas anderes zu entdecken als ein neues Muster auf der Küchentapete daheim. Außerdem kannte Dana ihn und sie wusste, dass er mich als letztes gesehen hatte, sollte er mich doch umbringen. Ein wichtiges Detail für die Polizei.
„Okay.“, erwiderte ich schlicht, bevor ich den Kopf schief legte und ihn noch eingehender betrachtete. Dichte, aber wohlgeformte Augenbrauen verliehen seinem markanten Gesicht Charakter. Für sein voriges Stirnrunzeln wurde er nun mit kaum sichtbaren Falten gestraft, die sich über seine gebräunte Haut zogen. Dazu gesellten sich auf einmal Lachfalten um seine Augenwinkel. Er lachte mich wohl aus.
„Und, halte ich der Musterung stand oder hast du mich bereits als Serienkiller abgestempelt?“
„Dich würde keiner verdächtigen und genau deshalb wärst du in einer Mordserie Idealbesetzung.“, erwiderte ich prompt und verengte gespielt nachdenklich die Augen. Ich war froh, dass er mein Gaffen für eine Vertrauensprüfung hielt. „Wie korrupt ist die Polizei in Colorado?“
„Na, jetzt komm mit!“ Er griff grinsend nach meinem Rucksack, den ich ihm wehrlos überließ. Er hätte mich ja doch gezwungen, ihn mein Gepäck tragen zu lassen. „Lass uns besser fahren, bevor die Einwohner uns hören und ich mich mit dem Sheriff duellieren muss.“
Ich lachte auf. Plötzlich war ich überhaupt nicht mehr unangenehm davon berührt, dass mir ein Fremder Hilfe anbot. Jeder Mensch, der imstande war, sinnlosen Quatsch mit mir zu erspinnen, fand erst einmal einen Platz in meinem Herzen.




Während der ziemlich kurzen Fahrt in Lucas‘ schwarzem Cadillac, durfte ich Ouray ganz in Ruhe betrachten. Dieses kleine, eingeschneite Bergstädtchen hatte wirklich seinen Charme. Dass ich es geschafft hatte, tatsächlich irgendwann in meinem Leben in die USA zu reisen, wie so viele Leute es sich erträumen, und dann ausgerechnet in einem solchen Örtchen zu landen, ließ mich den Kopf schütteln. Aber es ließ sich nicht von der Hand weisen, dass es mir gefiel, nicht zu wissen, was auf mich zukommen würde. Ein erwartungsvolles Kribbeln breitete sich in meinem Magen aus, strömte durch meine Arme, bis meine Finger ungeduldig zu trommeln begannen. So idyllisch diese Stadt auch wirkte, ich wusste, dass ich bereit war für neue Erfahrungen und für das Leben, über das ich in meinem Alltag bisher nur lesen durfte. Ich würde mein Abenteuer schon noch finden.
Schließlich saß ich gerade bereits neben einem freundlichen und unheimlich hübschen Mann. Nach einem Liebesabenteuer suchte ich zwar nicht, aber was sprach dagegen, die Reise auf diese Weise zu beginnen? Ich würde meinen Verstand für alles öffnen. Gedankenverloren warf ich ihm einen Seitenblick zu. Sportlich schien er zu sein, durchaus trainiert. Die schlechteste Wahl wäre er definitiv nicht.
„Also… erfahre ich noch deinen Namen, bevor ich endlich von dir ablassen muss?“, erkundigte sich dieser Mann gerade. Himmel, er hatte recht!
„Oh, das hab ich ganz vergessen.“ Ich lachte über meine Unhöflichkeit. „Das war tatsächlich etwas unhöflich von mir. Wobei… deinen Namen weiß ich ja auch nur dank Dana.“
„Einigen wir uns darauf, dass unsere Eltern uns beide besser hätten erziehen müssen.“, grinste er. Ich erwiderte dieses Grinsen eine Spur aufgesetzter, überging den Kommentar jedoch.
„Nenn mich einfach Mia.“, sagte ich dann leise. „Das tut jeder.“
„Okay. Mia.“ Er lächelte mir zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte und kurz darauf in eine Einfahrt einbog. „Und damit wären wir auch schon da.“
Neugierig sah ich aus dem Fenster. Ein Haus komplett aus dunklem Holz gezimmert türmte sich vor dem Bergpanorama auf. Die drei Etagen waren durch Außentreppen miteinander verbunden. Das Ganze wirkte eher wie ein Appartement-Komplex. Verwirrt drehte ich mich zu Lucas um, der sich bereits abgeschnallt hatte und mich erwartungsvoll ansah.
„Oh, sorry.“, murmelte ich, löste ebenfalls den Gurt und stieg aus, ging ein paar Schritte auf das Haus zu. Die eiskalte Luft kroch zurück in meine Kleidung. Sofort vermisste ich den Komfort der Sitzheizung.
„Du scheinst etwas anderes erwartet zu haben!“, rief Lucas von der anderen Autoseite aus, während er meinen Rucksack aus dem Kofferraum holte.
„Nun… sie meinte, sie hilft einer älteren Dame und du sagtest auch, sie arbeitet ‚nebenan bei Mrs Weaver‘… da nahm ich an… “
„… dass sie einer schwerfälligen Lady im Haushalt hilft?“, lachte er, wodurch ich mich ein wenig dumm fühlte. Was für einen Eindruck machte das wohl, wenn man durch die halbe Welt reiste ohne zu wissen, wo man eigentlich hinwollte? Andererseits war genau das der Gedanke dabei gewesen.
„Mrs Weaver gehören viele Immobilien hier in der Stadt.“, erklärte Lucas und trat neben mich. „Sie vermietet sie an Reisende. Dana ist… naja, theoretisch für die Promotion und Vermittlung zuständig, aber praktisch lässt Mrs Weaver sie meistens den Dreck wegräumen.“ Seine Miene verdüsterte sich.
„Ihr habt wohl viel miteinander zu tun?“, fragte ich und musterte sein Gesicht, dass sich überrascht wieder erhellte.
„Oh, nein! Wir sind Nachbarn und laufen uns manchmal über den Weg.“ Er lächelte mich an. „Ich sag doch, hier weiß jeder alles über jeden. Also weiß ich auch über Dana Bescheid. Offensichtlich im Gegensatz zu dir.“
Das saß. Ich seufzte tief. „Wir sind die besten Freundinnen… aber über die Entfernung ist es nicht immer einfach gewesen.“, murmelte ich und starrte auf meine abgewetzten Sneaker. Zumindest schob ich das Ganze auf die Entfernung und hoffte, dass ich recht hatte.
„Nun, jetzt bist du ja hier.“, brach er das kurze Schweigen. „Bestimmt ist es bald wie früher!“
Ich blickte auf und lächelte ihn an. Einen so einfühlsamen Menschen, der freundlich zu einer Unbekannten war, der überhaupt zu irgendjemandem so warmherzige Dinge sagte, hatte ich soweit ich mich erinnern konnte noch nie getroffen.
„Danke für deine Hilfe!“, sagte ich schnell, bevor ich es vergaß, doch er winkte ab.
„Ist doch selbstverständlich.“
„Ist es für mich nicht.“, fuhr ich ernst fort. „Du hast bestimmt auch besseres zu tun, als verwaiste Menschen vom Straßenrand aufzulesen!“
Er sah mich einen Moment schweigend an und ich bildete mir ein, dass er mir tiefer in die Augen blickte als zuvor. Nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen.
„Nein, da fällt mir gerade nicht sehr viel ein.“
Okay, er flirtete tatsächlich mit mir. Wir standen einige Augenblicke einfach da und lächelten uns an, bis eine Bewegung im Augenwinkel mich ablenkte. Dana lief über den Steinweg, der um das Haus herum gelegt war, auf uns zu. Ihre Schritte wirkten unsicher.
„Hey!“, rief ich erfreut. In all den Monaten, in denen ich sie nicht gesehen und selten ihre Stimme gehört hatte, hatte ich das Gefühl gehabt, dass zwei verschiedene Kontinente die Fähigkeit hätten, uns auseinanderzubringen. Doch das tolle an besten Freundinnen war: Traf man sich erst wieder und sah in die vertrauten Augen, kamen die ganzen Erinnerungen an die guten alten Zeiten wieder hoch. Es würde immer so sein, als wären wir achtzehn und als würde sie mich nach ihrem bestandenen Führerschein stolz mit dem Auto abholen, mit ihrer Mutter auf dem Beifahrersitz.
„Haaa-llooo.“, erklang ihre sanfte, immer etwas unbeholfene Stimme, tiefer als die der meisten Frauen. Ihre dunkelroten Haare waren, wie ich es von früher gewohnt war, sorgsam geglättet. Unter ihrem offenbar schnell übergeworfenen Parka trug sie eine geblümte Seidenbluse und eine schicke schwarze Hose. Businesslook mit typischem Dana-Romantik-Einfluss. Und ich dachte nie so viel über Kleidung nach, wenn ich nicht mit ihr zusammen war, dachte ich schmunzelnd, während ich auf sie zulief und sie umarmte.
„Ich bin so froh, endlich hier zu sein.“, sagte ich seufzend.
„Ich bin auch froh, dass du hier bist.“ Es klang ehrlich, aber ich hörte den seltsamen Unterton sofort heraus, war mir aber nicht sicher, was er bedeutete.
„Es ist doch wirklich okay, dass ich gekommen bin?“, erkundigte ich mich unsicher.
Sie riss die Augen auf. „Klaaar! Ich habe dich ja auch vermisst. Natürlich ist das okay, dass du gekommen bist!“
„Gut.“, lächelte ich.
Jemand räusperte sich laut hinter uns. Lucas trat dazu und stellte den Rucksack vor meine Füße
„Hallo Dana.“, grüßte er sie freundlich und wandte sich dann an mich. „Damit wärst du ja am Ziel und brauchst mich nicht mehr. Ich hoffe, du genießt deine Zeit hier!“
Ich strahlte ihn zum Abschied an. „Danke!“
„Kein Problem.“ Das wärmste Augenpaar der Welt leuchtete mich ein letztes Mal an, bevor er sich umdrehte und beschwingt zurück zu seinem Wagen marschierte. Sobald er die Tür zugeschlagen hatte, drehte ich mich wieder zu Dana, die ihn nachdenklich beobachtete.
„Also, ganz ehrlich – der hat doch ein paar Leichen im Keller oder?“, fragte ich in die Stille. Sie blinzelte und sah mich irritiert an, wusste aber nach kurzer Zeit, worauf ich hinauswollte und verzog die dunklen Lippen zu einem Grinsen.
„Irgendwie hoffe ich das sogar.“, antwortete sie.
„Er ist zu gut um es zu ertragen, hm?“
„Du sagst es.“




Die Holzdielen knarrten laut unter unseren Füßen. Dana schloss die Tür auf, die zu einer Einzimmerwohnung im Dachgeschoss führte. Ich trat hinter ihr ein und wurde von wohliger Wärme empfangen. Schnell wurde die Tür hinter mir wieder geschlossen, damit die kalte Luft nicht eindringen konnte.
„Es ist nichts großartiges… “, begann Dana, sich für die Wohnsituation zu entschuldigen. Rote Fließen bedeckten den Boden und die Wände waren komplett mit dunklem Holz getäfelt, was das Zimmer noch ein wenig kleiner wirken ließ. Ein großes, weißes Doppelbett befand sich zu meiner linken und ein gemütlich aussehendes, olivgrünes Sofa zu meiner rechten. Vor Kopf war eine winzige Kochnische mit einem noch winzigeren Hängeschrank. Die einzige weitere Tür, die sich zusätzlich zur Eingangstür in der Wohnung befand, führte vermutlich ins Bad. Außer einem kleinen Bücherregal und einer Kommode befand sich nichts hier drin.
„Passt doch.“, sagte ich.
„Ja, also, mir reicht es!“ Dana nickte, als müsste sie sich selbst überzeugen und betrachtete mich mit ihren hellgrünen Augen erwartungsvoll, als hätte sie die Befürchtung, dass meine Ansprüche nicht erfüllt wurden.
„Das einzige, worüber ich mir Gedanken mache, ist, dass ich dir den wenigen Platz auch noch streitig mache.“ Ich grinste sie entschuldigend an. „Sobald ich dir zu sehr auf die Nerven gehe, sag bescheid!“
„Ach, Unsinn! Alles in Ordnung!“, bekräftigte sie.
„Gut.“ Ich stellte meinen Rucksack neben die Couch und atmete tief durch. Ich war da. Endlich.
„Und… “ Ihre Stimme klang wieder unsicher. „Wie war die Abreise Zuhause?“
Ich drehte mich zu ihr um. Sie lächelte nervös und ich senkte den Blick, fummelte an meinem Rucksack herum. Ich wusste, dass sich das bald geben würde. Immer, wenn wir uns einige Zeit nicht sahen, betrachtete sie mich mit diesem Blick. Ich war mir nicht immer sicher, was er bedeutete, aber die meiste Zeit versuchte sie wohl einzuschätzen, ob wirklich alles in Ordnung zwischen uns war. Wir hatten schon eine interessante Freundschaft. Es gab nicht viele Menschen, die darauf bedacht waren, dass sich ihr gegenüber immer wohl fühlte, und die stets Angst davor hatten, dass es an ihnen selbst lag, wenn es nicht so war. Aber Dana war einer davon. Und wenn sie dieses Gefühl hatte, quatschte sie einen meist tot.
„Ich habe sie eigentlich nur… “ Ich kratzte mich am Kopf, ließ meinen Blick aus dem großen Fenster wandern, durch das man direkt in die Fenster des Nachbarhauses sehen konnte, wenn man sich frontal davorstellte. Blickte man jedoch seitlich an dem Nachbarhaus vorbei, war einem ein unfassbarer Blick auf die Gebirgskette vergönnt. Nachdenklich betrachtete ich die Schneeflocken, die sich zu dem alten Weiß auf den Grund gesellten. „… sozusagen davon in Kenntnis gesetzt, dass ich dich jetzt besuche. Und dann bin ich gefahren.“ Dana atmete hörbar aus.
„Reicht ja auch.“, sagte sie und ich hörte den sauren Ton heraus, der mich zum Lächeln brachte. Sie war mit meiner Familie ganz und gar nicht zufrieden.
„Daran will ich jetzt gar nicht denken.“, entschied ich.
„Verständlich.“ Sie seufzte und sah auf ihre vergoldete Armbanduhr. „Ich muss leider los, tut mir leid! Aber du bist bestimmt müde von der Reise und möchtest dich hinlegen. Du kannst dich auch ruhig ins Bett legen. Oder dir was aus dem Kühlschrank nehmen. Oder dich duschen. Oder ein wenig spazieren. Oder auspacken.“ Sie holte Luft. „Und wenn ich wiederkomme, können wir in der Stadt was essen gehen und alles bequatschen, okay?“
Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Der Redeschwall sagte mir nur, dass sie auftaute. „Alles klar. Wenn du wiederkommst, erzählst du mir, was für schmutzige Geheimnisse die Einwohner dieser viel zu entzückenden Stadt haben!“
„Das wird langweiliger als du denkst, aber gut!“, lachte sie, schloss ihren Parka und ergriff ihre Handtasche. „Bis später!“
Ich winkte ihr noch ein letztes Mal zu, bevor ich mich rückwärts aufs Sofa fallen ließ, das glücklicherweise so stand, dass ich hinter dem etwas fleckigen, holzumrahmten Fenster die Bergkette betrachten konnte. Ein dichtes Schneetreiben hatte draußen begonnen. Ouray also. In Ordnung. Bevor mich das dumpfe Gefühl, das Gedanken an Zuhause auslösten, wieder beschleichen konnten, schob ich sie weit von mir. Daran wollte ich nicht mehr denken. Mit einem letzten, tiefen Atemzug schlief ich vor Erschöpfung ein.