Donnerstag, 31. August 2017

Kapitel 2: Y - Die verlorene Generation







Als ich erwachte, fühlte sich mein gesamter Körper versteift an. Das kleine, alte Sofa war bei weitem nicht so gemütlich, wie es mir in meiner Müdigkeit vorgegaukelt worden war. Mit noch geschlossenen Augen streckte ich mich und vernahm ein Knacksen in meinem Rücken. Flugzeug, Bus und Couch forderten ihren Tribut. Meine Position hatte ich im Schlaf nicht geändert, wie mir mein eingeschlafener Arm mitteilte. Seufzend zog ich ihn unter meinem Körper hervor und ließ ihn von der Lehne baumeln, das Blut allmählich in die Adern zurückfließen und stöhnte widerwillig über das ekelhafte Kribbeln. Ein wenig unwillig öffnete ich die Augen einen Spalt. Irgendwann würde ich aufstehen müssen, wenn ich heute Nacht nicht wachliegen wollte. Wobei dies so oder so geschehen würde.
Mit einem Mal stellte ich fest, dass es nicht mehr so harmonisch ruhig war wie bei meinem Einschlafen. Dumpf drang Musik von draußen durch die Wände herein. Verschlafen schaute ich aus dem Fenster. Draußen streunten noch immer vereinzelte Flocken umher. Der blaue Himmel war einem abendlichen, tiefen Lavendel gewichen. Erst jetzt, da die Lichter im Nachbarhaus angeschaltet worden waren, fiel mir auf, wie nahe es an den Wohnkomplex gebaut war, in dem Dana wohnte. Ich rieb mir die Augen und erhob mich schwerfällig, trottete zum Fenster, während ich auf den Lichtschalter haute, herzhaft gähnte und meine Arme um meinen kaltgelegenen Körper schlang. In diesem Moment erschien es mir schleierhaft, weshalb ich gedacht haben mochte, die Flucht in ein Skigebiet sei eine super Idee. Ich war in der Regel alles andere als wintertauglich. Aber darüber konnte ich mir Sorgen machen, wenn ich einen Schritt vor die Tür setzen musste.
Im Erdgeschoss des gegenüberliegenden Hauses war eine hübsche, glänzende Küchentheke zu erkennen, mit prall gefülltem Obstkorb direkt vor dem bodentiefen Fenster. Dass meine neuen Nachbarn das Geld etwas lockerer sitzen hatten, war unverkennbar. Die roten Äpfel glänzten wie in einem Bilderbuch. Kurz darauf waren gebräunte Männerhände zu erkennen, die eine Auflaufform auf die Theke hievten und überprüften, ob das Essen gar war. Unwillkürlich musste ich feststellen, wie leer sich mein Magen anfühlte. Betätigend gluckerte er leise, als ich eine Hand auf ihn legte. Hoffentlich brauchte Dana nicht mehr allzu lange… Sonst könnte ich ja nebenan einfach mal klingeln. Hey, ich habe gerade von nebenan aus in euer Haus gespannt. Ist der Auflauf fertig?
Meine Faulheit spielte mit dem Gedanken, sich einfach auf das große Bett fallen zu lassen und wieder einzuschlafen, bis es Hoffnung auf Abendessen gab. Die Zeit zu verschlafen war etwas, in dem ich unheimlich gut war. Jeder musste halt ein Talent haben. Was sollte es schon innerhalb dieses Zimmers zu entdecken geben? Und ohne Winterjacke in die klirrende Kälte zu treten war etwas, das mein vom Schlaf noch benebelter Verstand keineswegs attraktiv fand. Auf der weichen Matratze, unter kuscheligen Decken und auf flauschigen Kissen einfach wenig vor sich hinduseln… und träumen…
Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit wieder geschärft. Meine Augen huschten zu den schnellen Bewegungen, die plötzlich direkt vor mir stattfanden. Besser gesagt direkt vor meinem Fenster. Mann, wer war bloß der Architekt von dieser Katastrophe? Unmittelbar gegenüber meines Fensters, hinter einem weiteren Fenster im Nachbarhaus, vollzog ein junger Mann Klimmzüge an einer Reckstange. Es musste sich um ein Schlafzimmer handeln, immerhin war ein großes Bett mit silbergrauen Bezügen zu erkennen, direkt unter einer etwas futuristisch verschlungenen Deckenlampe aus Metall. Meine Augen huschten zurück zu dem Typen und ich legte den Kopf schief. Er musste etwa Mitte zwanzig sein. Einzelne dunkelblonde Haarsträhnen klebten ihm auf der feuchten Stirn. Sein Gesicht war vor Anstrengung gerötet und leicht verzerrt – wie eine lebendige Erinnerung daran, weshalb ich niemals Sport trieb. Gedankenversunken beobachtete ich sein akribisches Training. Bewundernswert, dass einige Leute es schafften, sich selbst zu solchen Leistungen zu motivieren. Alles, was innerhalb von geschlossenen Räumen stattfand, war nicht in der Lage, mich zu Höchstleistungen anzutreiben. Nun… fast alles. Aber da gab es auch immer eine Belohnung.
Ich wusste nicht, weshalb, aber irgendetwas an seiner Erscheinung wirkte… Ich suchte nach einem Wort, doch mir wollte keines einfallen. Ich hatte das Gefühl, dass er nicht nur wegen der Anstrengung so verbissen dreinschaute. Der ganze Körper hatte etwas von purer Aggression. Gut zu wissen, dass die Leute in Ouray einen Weg hatten, ihre Aggressionen in den Griff zu kriegen. Dem hier wollte ich in diesem Zustand lieber nicht auf der Straße begegnen. Hinter ihm war ein Stück einer eingeschalteten Stereoanlage sichtbar. Offenbar war dies der Ursprung der lauten Musik, die die Nachbarschaft beschallte. Der Titel wurde in einer dermaßen kleinen und flimmernden Schrift angezeigt, dass ich ihn nicht zu identifizieren vermochte. Ich beugte mich vor, kniff die Augen zusammen und drückte die Nase an der Fensterscheibe platt. Nicht zu entziffern. Immerhin hörte es sich nach Rockmusik an, Pluspunkte für ihn. Für die Musik und für seine Arme.
Über den letzten Gedanken musste ich ungewollt grinsen und schüttelte den Kopf, doch erneut wurde mein Gedankengang von einer Bewegung unterbrochen. Ich fokussierte meinen Blick wieder – und erstarrte. Während ich sein Zimmer begutachtet und mich in Träumereien und Psychoanalysen verloren hatte, hatte das Sportass sein Training unterbrochen und war an sein Fenster herangetreten. Schwer atmend und verwirrt starrte er mich an – und ich war nicht im Stande, anders zu reagieren, als überrumpelt zurückzustarren. Je länger ich das tat, desto ungläubiger wurde sein Blick. Wenn man bedachte, wie nah unsere Fenster aneinandergebaut waren, wirkte das ganze fast ein wenig bedrohlich – wie er dastand, stark verschwitzt, abgekämpft und eindeutig nicht sehr angetan von meinem Karriereeinstieg als Spanner. Ich machte großen Augen und setzte sich ein schuldbewusstes Gesicht auf. Dann versuchte ich es mit einem Lächeln. Sein Blick verfinsterte sich. Er schüttelte den Kopf und wedelte mit der Hand vor seiner Stirn herum. Sollte wohl heißen: Bist du total bescheuert? Die Chancen, dass ich tatsächlich bescheuert war, standen recht hoch. Okay, er fand mein Starren ganz und gar nicht witzig. Die süße, naive Nachbarin zu spielen brachte also überhaupt nichts. Vermutlich sah ich eh weniger süß und viel mehr verrückt aus –  noch immer ungeduscht und vermutlich mit einem fetten Sofakissenabdruck in meinem Gesicht. Ohne über meinen nächsten Impuls länger nachzudenken, knallte ich meine Handfläche gegen den Knopf, der sich neben dem Fensterrahmen befand.
Langsamer als es mir lieb war, senkte sich das Rollo vor mir gen Boden. Auf dem Weg dahin sah ich weiterhin in die vorwurfsvollen Augen meines Herrn Nachbarn. Sie starrten einen quälend langen Moment in meine, während ich vor Scham nicht fähig war, mich zu bewegen. Zuletzt hob er fassungslos die Augenbrauen, ganz so, als wollte er fragen: Echt jetzt?
Kaum war das Rollo am Boden und das Surren der Elektrik verstummt, schloss ich gedemütigt die Augen. Doch kurz darauf prustete ich los und hielt mir den Bauch vor Lachen. Natürlich musste mir in einem neuen Ort so etwas passieren. Nachdem ich mich beruhigt hatte, schüttelte ich den Kopf und bewegte mich endlich in Richtung Badezimmer. Während ich das Wasser aufdrehte, dachte ich wieder: hoffentlich würde ich dem Kerl niemals auf der Straße begegnen.



Frisch geduscht saßen Dana und ich auf dem großen Bett, beide mit Handtuch um den Kopf gewickelt. Es war bereits nach elf und mein Magen war überglücklich, dass Dana direkt Essen mit nach Hause gebracht hatte anstatt mich wie verabredet abzuholen.
„Du musst ja ziemlich lange arbeiten.“, bemerkte ich, während ich wahllos Unmengen Brot in mich stopfte. Dana seufzte und nagte an ihrem Laugenbrötchen.
„Und das jeden Tag, obwohl ich schon um neun morgens anfange!“ Sie schnippte unbeeindruckt einen Krümel von der Bettdecke, der mir vermutlich wie immer aus dem Mund gefallen war. Wenn ich mich zu wohl fühlte, aß ich wie ein Schwein – daran könnte man arbeiten.
„Lucas meinte, du darfst hauptsächlich den Dreck der Alten wegräumen.“, nuschelte ich mit vollem Mund. Dana sah mich überlegend an und ich wusste sofort, dass sie es falsch verstanden hatte. Ich schluckte runter. „Ich wollte damit nicht deinen Job niedermachen – ich bin ja auch noch nicht lange hier! Ich finde diese Frau einfach jetzt schon unsympathisch. Es klingt, als würde sie dich ausnutzen.“
„Naja… ganz so ist es nicht.“, sagte sie ausweichend, aber besänftigt. „Ich habe in der Zeit, in der ich hier bin, unheimlich viel gelernt. Allein was Marketing angeht! Das hab ich Zuhause nicht beigebracht bekommen! Und ich habe ja nichts dagegen, länger zu arbeiten, so lange… es sich lohnt.“
„Und, lohnt es sich?“, fragte ich und versuchte, meine Stimme neutral klingen zu lassen. Das hier gestaltete sich schwieriger, als es sonst nach einer längeren Trennung von Dana war. Ich sollte noch ein wenig aufpassen, was ich von mir gab.
„Meistens.“ Sie stieß Luft aus ihren Lungen. „Okay, nicht immer. Aber so ist das Leben.“
Ich lächelte. „Ach, vielleicht wird es ja besser! Manche Leute brauchen ja etwas, um aufzutauen. Wenn sie erstmal registriert, wie hart du arbeitest, wird es bestimmt einfacher.“
Dana antwortete nichts mehr, sah sich nur suchend im Zimmer um, als würde sie insgeheim überlegen, wie sie etwas formulieren sollte. Ich beobachtete sie einen Moment, bevor ich fragte: „Alles in Ordnung?“
Sie sah mich flüchtig an, nickte. „Klar!“, sagte sie. „Alles gut.“
„Spuck es aus.“, seufzte ich und legte das Essen weg.
„Alles gut! Wirklich.“, beteuerte sie, kratzte sich aber nervös am Arm. „Ich hatte gerade nur darüber nachgedacht, dass es für uns beide hier doch etwas eng wird auf Dauer. Ich bin auch viel arbeiten und hab nicht viel Zeit… klar, jetzt gerade ist es noch okay. Aber du wolltest ja eh eine kleine Rundreise durch die USA unternehmen oder? Hattest du nicht was von Work and Travel gesagt? Also, ich will dich natürlich nicht rauswerfen… “ Ein nervöses Lachen.
Ich schluckte, fühlte mich überrumpelt. „Ich wollte dir ja auch nicht auf Dauer auf den Keks gehen – “
„Tust du ja nicht!“
„Ich weiß, dass das hier nicht ewig geht und fange morgen auch an, zu gucken, was ich machen will. Klar. Aber ich bin ja gerade erst angekommen.“
„Jaa, ich weiß! Klar!“ Ihre Augen waren groß geworden und sie fuchtelte mit den Händen. „Ich weiß! Das war auch nur ein… Gedanke. Es ist halt sehr, sehr eng hier. Und du wolltest die Reise ja für dich unternehmen… “
Ich sah sie an, aber hörte dem Wortschwall gar nicht genau zu. Was war das? Sie verpackte zwar alles in nette Worte, aber es klang, als wollte sie mich so schnell wie möglich wieder loswerden.
„Ich bin nur hergekommen, weil du mir gesagt hast, dass du dich freuen würdest.“, sagte ich ruhig und unterbrach sie damit.
„Tu ich ja auch! Klar!“
„Daraufhin hab ich mir das Flugticket gekauft.“ Ich lächelte inzwischen, obwohl ich es nicht so meinte. „Sonst wäre ich niemals Hals über Kopf hier aufgetaucht. Ich bin nur hier, weil du gesagt hast ‚Mia, komm her!‘, also bin ich – hergekommen.“
„Ich weiß, das meinte ich ja auch so.“ Ich sah, wie sie die Augen verdrehte, obwohl ich es vermutlich nicht hatte sehen sollen. „Das war gerade wie gesagt nur ein Gedanke. Klar bleibst du erstmal hier! Ich habe nur über die Zukunft ein wenig nachgedacht.“
Mir fiel nicht viel mehr ein, was ich hätte erwidern können. Mit einem Mal fühlte ich mich ziemlich unwillkommen. „Wie gesagt fange ich morgen mit der Planung an, keine Sorge.“ Ich stand auf und zog meine Jogginghose aus, um in eine Jeans zu schlüpfen. Dana beobachtete mich unsicher, während ich die in meine abgewetzte Lederjacke schlüpfte und einen Schal um meinen Hals schlang. „Ich hab eben ganz schön viel geschlafen, bevor du gekommen bist. Ich geh noch schnell die Straße mal auf und ab, schau mir mal an, wo ich gelandet bin.“
„Okay… “, hörte ich leise von ihr. „Ist aber echt kalt draußen.“
„Bin ja nur kurz weg.“ Ich sah sie nicht einmal mehr an, als ich meine Schuhe anzog und zur Türe lief. Nicht, weil ich zickig war. Ich wusste die Situation einfach nicht einzuordnen und nach den letzten Tagen hatte ich auch keine Lust dazu. Ich war nicht weggelaufen, um hier neue Gründe zum Weglaufen zu sammeln.
„Du kannst dir gerne den Schlüssel mitnehmen.“ Dass sie genervt war, war nicht zu überhören.
Ich griff den Schlüssel von der Kommode. „Okay, bis später.“ Ich warf ihr ein knappes Lächeln zu und verschwand aus der Tür.





Nein, eine Lederjacke war definitiv nicht das richtige Kleidungsstück für Ouray im Dezember. Mitten in der Nacht. Ich seufzte. Kleine Rauchwölkchen entstanden augenblicklich vor meinem Gesicht und verschwanden genauso schnell wieder. Erst jetzt dachte ich an meine Haare, die, noch immer feucht, einen eisigen Helm um meinen Kopf zu bilden begannen. Vermutlich sollte ich einfach umdrehen, wieder in das winzige Zimmer von Dana marschieren, den Streit fürs erste vergessen und mich schlafen legen. Doch so langsam krochen die letzten Monate aus den verdrängten, ausradierten Orten hinauf, vor denen ich weggelaufen war – bis nach Amerika. Als ich meine Arme um meine Schultern schlang und einen Fuß vor den anderen setzte, bis ich wieder wie heute Nachmittag an der Straße stand, war mir längst klar, dass mich Danas Worte nicht derart verletzt hatten. Vielmehr waren sie der berühmte Tropfen, der das Fass langsam zum Überlaufen brachte und der in mir etwas auslöste, das mich bald um den Verstand brachte. Ich schloss die Augen, atmete tief durch und versuchte es wieder von mir zu schieben, dieses zerrende Gefühl, das mich hinab zog.
Schnell griff ich in meine Jackentasche und zog den gestohlenen Mp3-Player hervor. Kaum hatte ich ihn angeschaltet, hämmerte auch schon Failure von Breaking Benjamin in meinen Ohren. Perfekter Song. Das sanfte Gitarrenspiel beruhigte meine Nerven sofort. Ich öffnete die Augen wieder, blickte in den Himmel. Trotz meiner wirren Gedanken konnte ich nicht anders als zu bewundern, wie viele Sterne zu sehen waren. Eine kleine, abgeschiedene Stadt hatte ihre Vorteile. Verzweifelte Vocals, harte Drums.
Tired of feeling lost, tired of letting go…
Meine Augen wanderten weiter, über die wie ausgestorben wirkende Straße. Es schien, als hätte jeder außer mir einen Ort, an dem er sein musste. Wichtiger: an dem er sein durfte. War ich melodramatisch? Vermutlich. Aber wie oft musste ich mir noch sagen lassen, dass ich keinen Grund hatte, um mich schlecht zu fühlen? Und woher, verdammt nochmal, wollte das irgendjemand außer mir wissen? Volume up.
Tired of wasting breath, tired of nothing left…
Aber vielleicht war das alles tatsächlich nichts als meckern auf hohem Niveau. Ich stand immerhin auf einem vollkommen anderen Kontinent, hatte mich in ein Flugzeug und in einen Bus gesetzt, einfach so. Wer konnte sich schon so einen Luxus leisten? Und erst den Luxus, einfach alles wegzuschmeißen und mit Null dazustehen – freiwillig. Wie das auf alle anderen Menschen in meinem Bekanntenkreis wirken musste, war mir bewusst. Was hinter meinem Rücken geredet werden würde, sobald alles die Runde machte. Ein Grund mehr, einfach nicht mehr zurückzukehren.
Failure…
Plötzlich griff jemand nach mir. Der Schock ließ mein Herz stillstehen. Mein Magen zog sich zusammen, ich fuhr panisch herum und blickte – in warme braune Augen.
Lucas.
Während mein Herz nun wie wild gegen meine Brust hämmerte, erklang noch immer auf höchster Lautstärke der Song in meinen Ohren. Schnell zog ich die Stöpsel heraus und atmete erstmal tief durch.
„Gute Idee, in einem fremden Ort nachts allein mitten auf der Straße zu stehen und rein gar nichts hören zu können.“ Das waren Lucas‘ begrüßende Worte.
Verblüfft sah ich mich um. Ich hatte mich in meinen Gedanken tatsächlich auf die Fahrbahn bewegt.
„Nun… “ Meine Stimme klang etwas kratzig, also räusperte ich mich. „Gut, dass ich noch lebe, hm? So viel, wie hier nachts los ist.“
Er musterte mich forschend. Ich bemühte mich, einen lockeren Eindruck zu machen.
„Und was machst du hier… mit… nassen Haaren?“
Ja. Das war wohl ein schönes Bild. Ich musste ein wenig darüber schmunzeln. „Lebenskrise.“ Immerhin war das ehrlich, auch wenn er es als Scherz auffassen würde. „Und du? Arbeitest weiter an der Karriere als Stalker?“
„Selten jemanden getroffen, der so frech ist wie du!“ Er kniff gespielt böse die Augen zusammen, grinste aber glücklicherweise. Ein Segen, jemanden zu treffen, der meinen Humor verstand. „Ich habe tatsächlich einfach nur den Müll herausgebracht und dabei eine verwirrte, seltsame Frau entdeckt.“
Ich lachte. „Touché.“ Gleichzeitig zog ich meinen Schal höher, über mein Kinn und zog den Kopf ein.
Lucas musterte mich erneut, dann warf er einen Blick auf das Wohnhaus, in dem Dana lebte. „Hör mal, was wirklich los ist, geht mich nichts an. Aber es ist ziemlich kalt hier draußen. Wie wäre es mit einem warmen Kakao? Oder einem Tee? … Auf die Gefahr hin, dass ich mich mal wieder aufdränge.“
Nun war es an mir, ihn zu mustern. Es war so ungewohnt, dass sich ständig jemand um mein Wohlbefinden bemühte. Ich war mir auch noch immer nicht sicher, inwiefern ich ihm vertrauen sollte. Erste Eindrücke können auch täuschen. Aber wenn man die Situation nüchtern betrachtete, stand ich viel zu knapp angezogen und mit nassen Haaren mitten auf einer fremden Straße in einer fremden Stadt und die einzige Person, die ich kannte, war über meine Anwesenheit nicht so begeistert wie ich angenommen hatte. Vermutlich hielt er mich für einen Pflegefall. Also…
„Gibt’s den Kakao auch mit Schuss?“




„Du bist einfach so in ein Flugzeug gestiegen? Dass du dich ohne Plan auf den weiten Weg gemacht hast… “ Lucas schüttelte mit dem Kopf, während er einen Topf mit Milch auf die heiße Herdplatte stellte.
„Yolo.“, murmelte ich halbernst, während ich mich beeindruckt umsah. Ich befand mich in der Küche, die ich heute Nachmittag noch durch das Fenster beobachtet hatte. Alles war lächerlich perfekt aufeinander abgestimmt – die weißen Schränke, der schwarze Fliesenboden und graue Akzente wie Bilderrahmen oder Vasen aus Stein. Alles war sehr offen gebaut, der Wohnbereich grenzte direkt an die Küche. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gedacht, mich in einem Musterhaus zu befinden. Oder in einer Folge von Fixer Upper. Dann war es wohl Lucas gewesen, dessen Hände einen schönen Auflauf aus dem Ofen gezogen und mir Appetit gemacht hatten. Während ich zu einer Kommode schlenderte, auf der lauter Bilderrahmen standen, traf es mich plötzlich.
„Wohnst du hier alleine?“ Ich drehte mich zu ihm um und wartete, angespannt.
Lucas sah verblüfft auf, ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen. Vermutlich dachte er, dass ich herauszufinden versuchte, ob er eine Freundin hatte. Meine Furcht hatte er als schlechten Flirtversuch missverstanden. „Nein. Das Haus gehört meinem Vater. Über die Wintermonate kommen wir gern hierher – die einzige Zeit im Jahr, in der sich die ganze Familie sieht. Für mich alleine wäre das viel zu viel Platz.“ Er lächelte und ließ seinen Blick nicht von mir. Ich wandte mich schnell ab. Auf so verbindliche Avancen wollte ich wirklich nicht schon an Tag eins eingehen.
„Also befindet sich gerade eine ganze Familie hier unter dem Dach? Und wir machen hier einen Mitternachtssnack?“ Ich begutachtete die Fotografien. Lucas mit einem älteren Mann – wohl seinem Vater – in einem Garten… eine wirklich hübsche blonde Frau, die an einer Fassade arbeitete… und – bingo.
„Nein, nein. Meine Eltern haben sich ein paar Tage Zeit für sich genommen, machen eine kleine Rundreise durch Colorado. Morgen kommen sie wieder. Ups.“ Er zog schnell die Milch vom Herd, die mit einem Mal nach oben kochte. Gerade noch rechtzeitig. „Naja, mein Bruder ist noch hier. Aber der kommt oft erst in der Nacht zurück und schläft bis mittags – da arbeite ich schon. Und wenn ich abends heimkomme, ist er schon wieder fort. Also mehr eine Art Hausgeist.“
Sein Bruder also. Lucas rührte Kakao unter die Milch und füllte sie geschickt in zwei Tassen.
„Versteht ihr zwei euch gut?“, fragte ich neugierig.
Plötzlich zitterte seine Hand, nur kurz, aber es reichte, um eine riesen Sauerei auf der Küchentheke anzurichten. Er stöhnte. „War ja klar.“ Nachdem die zweite Tasse auch befüllt war, stellte er den Topf zurück auf den Herd und sah sich um. „Ich glaube, die frischen Handtücher sind ausgegangen. Ich hole mal schnell eines aus dem Bad. Bin sofort wieder da.“
„Klar.“, murmelte ich und sah ihm hinterher. War das Zufall gewesen oder die falsche Frage? Jede seiner Bewegungen hatte so geschickt gewirkt. Perfekt wie dieses Haus auf den ersten Blick. Aber ich wusste nur zu gut, dass die wenigsten Familien perfekt waren.
Ich drehte mich wieder zu der Kommode um und nahm kurzerhand das Bild von Lucas‘ Bruder in die Hand. Eindeutig, das war dieser Typ, den ich unfreiwillig bespannt hatte, mit dem Unterschied, dass er auf dem Foto kein hochrotes Gesicht hatte – und die aggressiv-ungläubige Körperhaltung fehlte auch. Wobei… so wirklich freundlich wirkte er dennoch nicht. Auf dem Foto war er offensichtlich ein paar Jahre jünger. Ein flauschiger, braun-weißer Welpe saß auf seinem Schoß und leckte ihm über die Hand. Welcher Mensch sieht auf einem Foto mit einem Welpen unfreundlich aus? Selbst Mafiabosse würden wie die sympathischsten Lebewesen wirken, sobald ein Tierbaby auf ihnen herumhüpft.
Urplötzlich hörte ich ein seltsames Geräusch hinter mir. Als ich mich herumdrehte, war niemand zu sehen. Das Geräusch war leise und irgendwie… feucht. Ich stellte das Bild wieder zurück und schlich leise um die Theke herum. Dort, wo die verschüttete Milch den Schrank heruntergelaufen und auf den Boden getropft war, befand sich eben besagtes Fellknäuel, nur um Welten größer. Das Bild war also tatsächlich schon älter.
„Na du. Dann hat die Milch ja doch noch einen Zweck.“ Ich musste lächeln.
Der Hund hingegen hielt mit einem Mal inne, den Kopf tief über die Milchpfütze gesenkt, starrte mich an und finge leise an zu knurren.
„Na hör mal. Ich knie mich bestimmt nicht neben dich und leck dir die Milch weg.“, meinte ich unbeeindruckt und machte mich ein wenig größer, ließ ihn nicht aus den Augen. Das Knurren war verstummt, aber er sah mich noch immer unsicher an, ließ seinen Blick zwischendurch wegflirren. „Alles gut.“, sagte ich sanft. „Ist fein.“ Einen Moment zögerte er noch. Dann leckte er wieder die Milch auf, wenn auch langsamer als vorher. Ich setzte mich im Schneidersitz mitten auf die schwarzen Fliesen und beobachtete ihn. Hund müsste man sein.
Als der Hund seine Mahlzeit beendet hatte, leckte er sich ein paar Mal über die Lippen und tapste zu mir herüber, kletterte über meine Beine und ließ sich schwerfällig in meinem Schneidersitz nieder als wäre er kein anderes Körbchen gewohnt.
„Freut mich auch, dich kennenzulernen.“, murmelte ich und streichelte vorsichtig seine Flanke. Er drehte blitzschnell den Kopf, schnupperte an meiner Hand, bevor er sich endgültig zum Schlafen niederließ und den Kopf au fmeinem Knie bettete. „Das kann unmöglich gemütlich sein. Aber gut. Du musst es ja wissen.“
Schritte näherten sich. Lucas betrat die Küche, sah sich verwirrt um. Nach kurzer Zeit entdeckte er uns auf dem Boden. Der Hund schenkte ihm einen desinteressierten Blick, bevor er wieder die Augen schloss. Lucas hingegen bewegte sich überhaupt nicht.
„Hi.“, meinte ich leichthin und grinste.
„Faszinierend.“, murmelte er. Ich stellte ihn mir unmittelbar mit Spitzohren vor. „Bonnie kann Fremde eigentlich nicht leiden. Wie hast du das geschafft?“
Die Antwort blieb ich ihm schuldig, weil mir nicht einfiel, was ich hätte sagen können. „Bonnie? Eine Hündin?“
„Ja, genau.“ Er riss sich von dem Anblick los und wischte den Schrank trocken und machte sich anschließend wieder an die Zubereitung unseres Kakaos. Ich beobachtete ihn dabei und kraulte Bonnie dabei im Nacken. Sie musste in den Top fünf der flauschigsten Hunde weltweit sein. So ein weiches, makelloses Fell hatte ich selten bei einem Hund entdeckt.
„Darf ich die behalten?“
Lucas lachte. „Mein Bruder würde dich umbringen. Bonnie gehört ihm.“
„Will er vermutlich eh schon.“, murmelte ich.
„Was?“
„Ach, nichts.“
Kurz darauf hatte ich einen dampfenden Becher Kakao mit Rum in der Hand, an dem ich dankbar nippte. Lucas setzte sich neben mich auf die Fliesen.
„So. Deine Haare sind trocken. Du hast was Warmes zu trinken. Willst du mir jetzt verraten, was du da draußen gemacht hast?“
Er läutete also die Therapiestunde ein. Darauf hatte ich nun wirklich keine Lust. „Ach, eine kleine Auseinandersetzung mit Dana, ich musste mir bloß Luft machen.“
Lucas nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Tasse. „Worum ging es?“
Ich lehnte mich gegen die Schränke hinter mir. „Mädchenkram.“, war alles, was ich sagte, und genoss wieder den Schokoladen-Rum-Geschmack. Meine Tasse war schon zur Hälfte leer.
„Vielleicht kann ich helfen?“ Er ließ nicht locker.
„Lass mal. Was machst du eigentlich beruflich?“
Er blinzelte sichtbar irritiert von dem schnellen Themenwechsel. „Ich… ich verkaufe Versicherungen.“
„Oh. Machst du das gerne?“
Er schwieg einen Moment, verdutzt. „Ich kann nicht sagen, dass ich es nicht gerne mache. Ich habe gerne mit Menschen zu tun.“
„Hm.“ Ich sah wieder auf Bonnie. Warum hatte ich ständig das Gefühl, dass ich die einzige war, der bei sowas stets der Sinn ausging? Irgendwas in meinem Kopf war kaputt. Ich kippte den Rest meines Kakaos hinunter.
„Du bist wie Shane. Der will auch ständig alles mit Schuss und trinkt es dann in einem Zug aus.“
Ich hob den Kopf und sah, dass Lucas mich ein wenig zu aufmerksam musterte. „Naja. Es waren mindestens drei oder vier Züge.“, sagte ich verlegen. „Wer ist Shane?“
„Mein Bruder.“
„Ah.“
Stille. Uns schienen die Gesprächsthemen ausgegangen zu sein. Dabei hatte sich der Abstecher in sein Haus so gut angelassen. Ob er mich tatsächlich nur aus Mitleid mit hineingenommen hatte und nun darauf wartete, dass ich meine Tasse abgab, mich artig bedankte und wieder verschwand?
Ich holte tief Luft und wollte mich gerade verabschieden, als er doch wieder zu reden begann.
„Ich wollte dich nicht als Alkoholiker abstempeln.“
Zu meiner Überraschung wirkte er ziemlich verlegen. Er drehte die Tasse in seinen Händen.
„Du hast mich bloß an ihn erinnert. Er und ich… kommen nicht so gut miteinander aus.“ Er stieß Luft aus seinen Lungen und sah mit einem Mal miserabel aus.
„Warum nicht?“ Ich beobachtete ihn aufmerksam, während sein Zeigefinger einen Tropfen Kakao auffing, der sich seinen Weg am Tassenrand nach unten zu bahnen versuchte.
„Ich weiß es nicht. Ich versuche alles, aber es ist zu deutlich, dass er gerne weit weg von mir wäre.“
Mir fiel nicht ein, was ich antworten sollte. Dafür kannte ich seine Familie zu wenig. „Geschwisterliebe.“, meinte ich daher bloß. Aber anscheinend hatte ich ein Fass geöffnet.
„Nun ja… wir sind nur Halbbrüder. Mein Vater hat Shanes Mutter geheiratet. Das hat ihm wohl nicht gepasst. Mein Vater und ich sind für ihn auch nach drei Jahren noch unwillkommen.“
„Ist er nicht ein wenig zu alt zum rebellieren?“, fragte ich stirnrunzelnd. Lucas lachte.
„Vielleicht. Aber wenn er so gar nicht bei uns sein möchte, kann ich verstehen, dass ihn das alles nervt. Hier zu sein.“
„Und… warum zieht er nicht aus? Er muss doch Mitte zwanzig sein.“
Verblüfft betrachtete mich Lucas. „Woher… ?“
Ups. Richtig. Er wusste ja nicht, dass ich seinen halbnackten Bruder bereits kennengelernt hatte. Zumindest quasi.
„Ehm… das Bild. Der Hund war darauf noch ein Welpe und er sah aus wie um die zwanzig. Hunde wachsen natürlich schnell und deshalb war es dumm, das als Zeitfaktor einzuberechnen.“ Ich redete ein wenig zu schnell, aber Lucas schien es zu schlucken.
„Ach, das Bild. Nicht schlecht geschätzt. Er ist sechsundzwanzig.“
Ich atmete erleichtert aus und lächelte vor mich hin.
„Aber seine Mutter will es so. Sie sagt, er soll wenigstens den Winter bei uns verbringen. Er hat auch keinen Job, der ihn an einem anderen Ort festnageln würde, also… “
Und schon herrschte wieder Stille. Toll. Das einzige Gesprächsthema, das uns einfiel, war sein Bruder gewesen. Aber immerhin wusste ich nun, dass keiner Verdacht schöpfen würde, wenn er sich mir gegenüber schlecht gelaunt verhielte. Sofern ich ihn mal treffen würde.
„Ich glaube, ich gehe mal wieder rüber. Der erste Tag ist wirklich zu früh, um so eine Spannung zwischen Freunden zu ertragen.“
Lucas nickte und nahm meine Tasse entgegen. Ich sah auf Bonnie herab, die noch immer demonstrativ auf mir pennte.
„Hundi.“, sagte ich sanft und stupste sie an. Ihr Kopf schnellte herum und erneut ließ sie ein Knurren hören. „Mädchen!“, knurrte ich zurück. Mit einem Mal verstummte sie und erhob sich von mir. Vor mir blieb sie stehen und sah mich mit großen Augen an, bevor sie sich streckte und sich einfach wieder auf den Boden sinken ließ. „So ist gut.“ Ich streichelte ihr noch einmal über den Kopf und stand dann auf.
„Hast du selbst einen Hund?“
Ich drehte mich zu Lucas, der mich fasziniert beobachtete. „Oh. Nein.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Aber wenn mich jemand anknurrt – knurre ich eben zurück.“
Er lachte laut, bevor er einen Blick auf die Uhr warf. „Schon halb zwei… ich muss morgen um sechs aufstehen.“, stöhnte er.
„Aber das machst du natürlich gerne, weil du gerne auf Menschen triffst!“, erinnerte ich ihn grinsend. Er grinste zurück und schüttelte den Kopf.
„Gibt es jemanden, der schlagfertiger ist als –“ Er unterbrach sich selbst, als die Haustür geöffnet und lautstark zurück ins Schloss geschlagen wurde. Sofort erhob Bonnie sich hellwach und rannte in den Flur. „Der ist aber heute früh“, murmelte Lucas und warf noch einen prüfenden Blick auf die Uhr, dann auf seine Armbanduhr.
„Hey, Shane!“
Oh-oh.
Als sich Fußschritte der Küche näherten, machte ich einen großen Schritt auf die noch klebrige Theke zu, schnappte mir das Handtuch und gab vor, sie richtig reinigen zu wollen. Ich war ja so ein höflicher Gast.
„So früh schon zurück?“
Ich hörte keine Antwort. Es war aber auch eine ziemlich überflüssige Frage gewesen.
„Willst du Kakao? Das ist unsere neue Nachbarin, Mia.“
Okay. Nun würde ich mich wohl oder übel umdrehen müssen. Ich atmete tief durch, setzte mich laaangsam in Bewegung und drehte mich um.
Es war nicht abzustreiten. Vor mir stand der abgekämpfte Typ. Mit dem Unterschied, dass er jetzt gar nicht abgekämpft aussah, sondern ziemlich gestylt. Die hellblauen Augen waren allerdings etwas nebelig.
„Hi. Shane.“ Eine unheimlich dümmliche Stimmlage drang aus meinem Mund. Passend dazu setzte ich ein vorsichtiges Lächeln auf. Seine Augen verengten sich. Bitte nicht.
„Kennen wir uns?“, fragte er in tieferem Ton als Lucas imstande war. Sein Verstand versuchte ganz offensichtlich zu arbeiten, aber der Alkohol hielt ihn davon ab.
„Sie ist heute erst angekommen, aus Deutschland. Das wäre ein ziemliches Wunder.“, kam Lucas mir zur Hilfe, ohne es zu ahnen.
Plötzlich desinteressiert wandte Shane sich ab. „Wie auch immer. Nacht.“ Er zog noch seine Jacke aus und ließ sie einfach hinter sich fallen, während er wieder im Flur verschwand. Ein paar stampfende Schritte später knallte irgendwo im Haus eine Zimmertür.
Lucas seufzte. „Das tut mir leid. Wirklich.“
Wenn der wüsste, wie erleichtert ich gerade war.



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